Imagica
Wundern der Vierten Domäne. Ein Anzug aus Bergen, mit Jokalaylau-Schnee besetzt; ein Hemd aus Patashoqua, dazu ein Gürtel aus den Wällen der Stadt; auf dem Haupt eine heiligenscheinartige Krone, in der winzige Lichter hin und her huschten, so wie Fahrzeuge über jene breite Straße, die vom Patashoqua-Tor ausging. Scopique bot einen weniger protzigen Anblick: Grauer Kwem-Staub umgab ihn wie mit einem Mantel, und jedes einzelne Partikel wies auf die Einzelheiten der Dritten hin: die Wiege; die Tempel von L'Himby; der Fastenweg. Es zeigte sich sogar eine Andeutung der Eisenbahnstrecke; in der Ferne stieg der Rauch einer Lokomotive auf und vereinte sich mit dem Dunst von Scopiques Analogien-Umhang.
Athanasius trug eine schmutzige Tunika, und in seinen blutenden Händen hielt er ein perfektes Ebenbild von Yzordderrex: vom Damm bis zur Wüste; vom Hafen bis zum Theater Ipse. Das Meer strömte ihm aus der aufgerissenen Seite, und von der blühenden Dornenkrone lösten sich Blütenblätter, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten.
Und schließlich Chicka Jackeen, von Blitzen umflackert, so
* Metempsychose - Seelenwanderung. Anmerkung des Übersetzers.
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wie damals, vor zweihundert Jahren. Die Furcht hatte ihm Tränen und ein blasses, wächsernes Gesicht beschert. Jetzt verwandelte sich das Gewitter in etwas, das ihm zustand. Das zwischen seinen Fingern zuckende Licht zeichnete sich durch eine strenge Schönheit aus, die das Geheimnis der Ersten repräsentierte - es löste und dadurch ein ganz neues Mysterium schuf.
Gentle fragte sich, ob seine Gefährten ihn selbst auf eine ähnliche Weise ›erfanden‹. Aber vielleicht teilten sie nicht das Bedürfnis des Malers zu sehen; vielleicht nahmen sie etwas völlig anderes wahr. Warum auch nicht? Mit der Zeit mochte er lernen, sich von dem zu trennen, was er bisher als Realität erachtet hatte, um hinter die Wirklichkeit zu blicken und ihre Fundamente zu erkennen. Möglicherweise war er dann imstande, die Essenz des Seins zu betrachten, sie mit der gleichen Mühelosigkeit zu erreichen, die es ihm jetzt erlaubte, außerhalb des Selbst zu existieren, das seinen Namen trug. Er fühlte sich kaum mehr mit dem Individuum Gentle verbunden.
Unter anderen Umständen hätte er sich vermutlich diese Art von Ewigkeit als Belohnung für die Rekonziliation gewünscht, doch der Wunsch, noch einmal Pie'oh'pah zu sehen, verdrängte entsprechende Gedanken.
Eine neuerliche Erkenntnis wies ihn auf einen gewissen Mangel an Plausibilität hin. Das Sanktuarium des Ana blieb nur für kurze Zeit von Bestand, und während dieser Phase mußte es ökumenische Pflichten erfüllen, konnte sich nicht um eine einzelne Seele kümmern. Die Maestros waren ihrer Aufgabe gerecht geworden, indem sie die Domänen zu diesem heiligen Ort brachten, und bald wurden sie nicht mehr gebraucht. Sie würden in ihre Kreise zurückkehren und von dort aus ›beobachten‹, wie die einzelnen Welten miteinander verschmolzen und dadurch das In Ovo wie ein Meer des Unheils zurückdrängten. Was im Anschluß daran geschah, blieb Mutmaßungen überlassen. Der Rekonziliant bezweifelte, 1243
ob es zu einer allgemeinen Offenbarung kommen würde, die allen Nationen der Fünften zeigte, daß uralte Fesseln abgestreift waren. Für weitaus wahrscheinlicher hielt er einen langsamen Prozeß, der Jahre dauern mochte. Zuerst Gerüchte von Brücken im Nebel, sichtbar für Augen, die aufmerksam genug Ausschau hielten... Früher oder später führten die Gerüchte zu Gewißheit, und aus den Brücken wurden Straßen, aus dem Nebel Wolken. In ein oder zwei Generationen wurden vielleicht Kinder geboren, die mit dem Wissen aufwuchsen, daß es fünf Domänen gab. Und wenn sie später damit begannen, die Welten zu erforschen - möglicherweise entdeckten sie dabei einen Gott. Es war nicht wichtig, wie lange es dauerte, bis jener Tag begann. Imagica wurde eins, wenn die erste kleine Brücke entstand. Dann erfuhren alle Seelen der zusammengeführten Domänen - von der Wiege bis zum Grab - irgendwo in ihrem Innern Heilung und Trost, um fortan leichter atmen zu können.
Judith wartete lange genug im Flur, um sicher zu sein, daß Montag nicht tot war, dann wandte sie sich der Treppe zu. Sie spürte jetzt keine dumpfen Schmerzen mehr, was auf ein Versiegen der Rekonziliationsenergien hinwies - zweifellos ein Anhaltspunkt dafür, daß eine neue Phase der Zusammenführung begonnen hatte. Clem gesellte sich Jude am unteren Ende der
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