Imagica
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stieß den Dolch beiseite, und er flog aus der Hand des Mannes.
Nur einen Sekundenbruchteil später drehte sie sich um und hoffte im Namen der Göttin, daß Clem die Tür offengelassen hatte. Das war tatsächlich der Fall. Außerdem schienen Dutzende von Kerzen zu brennen, denn das Rechteck des Hauseingangs zeichnete sich hell in der Nacht ab. Jude lief los und hörte, wie hinter ihr Sartoris Stimme ertönte. Er sprach nur ihren Namen, doch in den beiden Silben kam eine Drohung zum Ausdruck. Sie schwieg - ihre Flucht war Antwort genug -, aber nach einigen weiteren Schritten warf sie einen Blick über die Schulter. Sartori streckte gerade die Hand nach der auf dem Boden liegenden Klinge aus, richtete sich auf und wiederholte:
»Judith...«
Diesmal war die Warnung noch deutlicher. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und sah nach links. Ein Gek-a-gek - jenes Exemplar, das am Baum die Krallen geschärft hatte - näherte sich ihr. Der flache Kopf war angeschwollen, um einem weit aufgerissenen Maul, dessen Zähne bis zum Magen zu reichen schienen, genug Platz zu bieten.
Sartori rief einen Befehl, aber der Oviat ignorierte seinen Herrn und sprang auf die Frau zu, um sie zu verschlingen. Jude stürmte zur Tür und vernahm einen Schrei, der Kampfbereitschaft verkündete: Montag stand vor ihr im Zugang, nackt bis auf die schmutzige Unterwäsche; er schwang eine improvisierte Keule und wirkte wie ein Besessener. Sie duckte sich unter dem Knüppel weg und erreichte die kurze Treppe vor dem Haus, Clem hielt sich dort bereit, um sie über die Schwelle zu ziehen, aber zunächst schenkte sie ihm keine Beachtung und drehte sich um, sie wollte Montag auffordern, ins Haus zurückzukehren. Der Gek-a-gek sauste heran, auf die Waffe des Verteidigers zu, doch der Junge wich nicht zurück und holte aus: Seine Keule traf den Schädel des Oviaten und splitterte, aber der kraftvolle Hieb kostete den Angreifer ein 124
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Auge. Zwar war das Biest jetzt verwundet, aber sein Bewegungsmoment trug es auch weiterhin in Richtung Tür, und die Krallen der einen Pranke schlugen in Montags Rücken, als er sich dem Eingang zuwandte. Der Junge schrie und wäre vielleicht von dem Oviaten zu Boden gerissen worden, wenn Clem ihn nicht an den Armen gepackt und ins Haus gezogen hätte.
Kaum ein halber Meter trennte Judith von dem halb blinden Geschöpf, das nun den Kopf zurückneigte und schmerzerfüllt heulte. Ihr Blick galt jedoch nicht dem aufgerissenen Rachen, sondern Sartori: Er kam auf das Haus zu, ein Messer in jeder Hand, und zwei Gek-a-gek folgten ihm. Kummer leuchtete in seinen Augen, als er Jude ansah.
»Komm herein!« rief Clem. Judith gab sich einen Ruck und sprang über die Schwelle.
Der einäugige Oviat setzte ihr nach, aber Clem reagierte schnell. Die schwere Tür fiel ins Schloß, und Hoi-Polloi schob sofort die Riegel vor. Der verletzte Gek-a-gek und sein ebenfalls verwundeter Herr blieben in der Dunkelheit ausgesperrt.
Gentle saß immer noch im Meditationszimmer und hörte nichts von diesen Vorgängen. Der Kreis hatte ihm unterdessen Gelegenheit gegeben, das In Ovo zu durchqueren und etwas zu erreichen, das Pie als ›Villa des Nexus‹ bezeichnet hatte - das Ana. Dort sollte die vorletzte Phase der Zusammenführung stattfinden. Die gewöhnliche Wahrnehmung spielte an diesem Ort keine Rolle mehr. Dem Rekonzilianten erschien alles wie ein Traum - in dem er wußte, obgleich er nach Antworten suchte, in dem er über Macht verfügte, ohne sie greifen zu können. Er bedauerte nicht, seinen Körper in der Gamut Street zurückzulassen. Selbst wenn er nie in ihn zurückkehrte - es wäre kein großer Verlust gewesen, diese aktuelle Art der Existenz empfand er als viel erstrebenswerter: Er wähnte sich Teil einer Gleichung, die nie aufgelöst oder reduziert werden 1241
konnte; sie genügte in dieser Form, um die Summe aller Dinge zu ändern.
Er wußte, daß die anderen bei ihm weilten. Zwar war es ihm nicht möglich, sie auf die übliche Weise zu sehen, aber dem inneren Auge standen nun ganz neue Panoramen zur Auswahl, und hinzu kam ein unerschöpflicher Vorrat an Imagination.
Hier brauchte man nicht zu kopieren und zu plagiieren. Die Metempsychose* erlaubte ihm eine ungeahnte visionäre Perspektive, und die Fantasie schuf Sinnbilder und Entsprechungen für die übrigen Maestros.
Gentle ›erfand‹ Tick Raw: er war so kunterbunt gekleidet wie bei der ersten Begegnung in Vanaeph; doch jetzt bestand die Kleidung aus den
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