Imagica
und daraufhin wagte sie es, die Lider wieder zu heben. Sofort wogte ihr eine Flut der Verlockungen entgegen. Alle Kerben und Nägel in der Tür riefen ihr zu: Bleib stehen und betrachte uns! Der um sie herum aufsteigende Staub formte Konstellationen, in denen sie sich für immer verlieren konnte. Mühsam setzte Judith einen Fuß vor den anderen und schloß schließlich die Finger so fest um den Knauf, daß Schmerz die Betörungen verdrängte und es ihr ermöglichte, die Tür zu öffnen. Weiter hinten ertönte erneut Sartoris Stimme, aber sie klang jetzt undeutlich - er schien nun halb in einem Netz aus Myriaden von Sinneseindrücken gefangen zu sein.
Vor Jude hockte sein nacktes Ebenbild im Steinkreis. Gentle nahm die übliche Haltung des Meditierenden ein: Beine überkreuzt, Augen geschlossen, die Hände so auf den Knien, daß die Innenflächen nach oben zeigten - als seien sie bereit, Weisheit zu empfangen. Zwar enthielt das Zimmer viele Dinge, die Judiths Interesse zu wecken trachteten - Kaminsims, Fenster, Dielen und Sparren -, doch selbst die große Summe dieser Verlockungen konnte es nicht mit der menschlichen Nacktheit aufnehmen, zumindest nicht mit dieser Blöße. Mehr als nur einmal hatte sie ihre Liebe genossen und neben ihr gelegen. Weder die Schmeicheleien der Wände - der fleckige Mörtel wirkte wie die Karte eines fremden Landes - noch das Flüstern der zermalmten Blätter auf dem Fenstersims konnten Jude nun ablenken. Ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Rekonzilianten. Mit langen Schritten durchquerte sie das Zimmer und rief dabei seinen Namen.
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Er rührte sich nicht. Wo auch immer sich sein Geist befand: Jener Ort war viel zu weit entfernt, um es ihm zu erlauben, auf Stimmen aus der Fünften zu achten. Anders ausgedrückt: Dieses Zimmer, das Haus in der Gamut Street, London - das alles bildete jetzt einen kleinen, banalen Teil von Gentles Arena und verdiente kaum Beachtung. Judith verharrte am Rand des Kreises. Nichts deutete auf einen Transit jenseits der von den Steinen gebildeten Grenzlinie hin, aber Dowd und die Voider fielen ihr ein: Es war sehr gefährlich, einen aktiven Transferbereich aufzusuchen. Im Erdgeschoß stieß Celestine einen warnenden Schrei aus, und er vermittelte eine deutliche Botschaft: Die Zeit wurde knapp. Was auch immer das Innere des Kreises bereithielt - Judith mußte es akzeptieren und die Konsequenzen hinnehmen.
Sie holte tief Luft und trat über die Steine hinweg. Sofort fühlte sie die bereits vertrauten und noch immer sehr unangenehmen Begleiterscheinungen einer beginnenden Reise: Übelkeit; hier ein Prickeln, dort ein Stechen. Ein oder zwei Sekunden lang glaubte sie, daß sie der Kreis durchs In Ovo schleudern würde. Aber dazu kam es nicht. Andere Funktionen hatten nun Priorität, und sie zwangen Jude neben Gentle auf die Knie, bescherten ihr immer intensiver werdende Schmerzen. Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, und Flüche lösten sich von den bebenden Lippen. Der Kreis hatte sie nicht getötet, aber wenn die Pein auch weiterhin zunahm, wünschte sie sich den Tod. Woraus folgte: Sie mußte rasch handeln.
Judith öffnete die tränenden Augen und sah den Rekonzilianten an. Weder der Klang seines Namens noch Flüche hatten ihn geweckt, und die Frau vor ihm verzichtete auf weitere Versuche dieser Art. Statt dessen packte sie Gentle an den Schultern und schüttelte ihn. Sie spürte schlaffe Muskeln, und der Kopf neigte sich von einer Seite zur anderen.
Unmittelbar darauf erfolgte die erste Reaktion, hervorgerufen 124
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vielleicht von Judes Präsenz im Kreis: Er schnappte nach Luft, wie ein an die Wasseroberfläche zurückkehrender Taucher.
»Gentle?« Judith sprach nun wieder. »Gentle! Öffne die Augen! Gentle! Du sollst die verdammten Augen öffnen!«
Ganz offensichtlich empfand er ihre Gegenwart als störend oder sogar als schmerzhaft: Er atmete nun schneller, und das bisher glückselige Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.
Dieser Anblick gefiel Jude - sie hatte seine messianische Selbstgefälligkeit sowieso nicht ausstehen können. Sollte er ruhig ein wenig leiden. Das war der Preis dafür, Gottes Sohn zu sein.
»Hörst du mich?« rief sie. »Du mußt die Zeremonie beenden, Gentle! Die Domänen dürfen nicht zusammengeführt werden!«
Seine Lider zuckten.
»Ja, so ist es richtig«, sagte Judith. Sie klang wie eine Schulmeisterin, die sich mit einem aufsässigen Schüler konfrontiert sah.
»Du schaffst es! Du
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