Imagica
imstande war. Er hob die Finger zum Gesicht seiner Mutter, und sie griff danach.
»Warum soll ich zum Vater?«
»Ruf Sein Feuer«, erwiderte Celestine.
Jude blickte Clem an, um festzustellen, ob dieser Wortwechsel für ihn mehr Sinn ergab als für sie, doch er wirkte verwirrt. Warum den Tod rufen, wenn er ohnehin kam, und zwar bald?
»Halt ihn auf«, fuhr Celestine fort. »Geh als liebender Sohn zu Ihm und binde Seine Aufmerksamkeit möglichst lange.
Schmeichle Ihm. Sag Ihm, daß du Ihn sehen möchtest. Bist du bereit, mir diese Bitte zu erfüllen?«
»Natürlich, Mutter.«
»Gut.«
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Celestine nickte, zufrieden darüber, daß ihr Sohn diesen speziellen Auftrag übernahm. Sie legte ihm die Hände auf die Brust, zog ihre Knie unter seinem Kopf hervor und ließ ihn langsam auf die Dielen sinken. Noch eine letzte Anweisung hatte sie für Gentle:
»Um die Erste zu erreichen, solltest du die übrigen Domänen durchqueren. Er darf nicht erfahren, daß es auch einen anderen Weg gibt. Verstehst du?«
»Ja, Mutter.«
»Und wenn du in der Ersten Domäne bist... Horche nach der Stimme. Sie erklingt im Boden, und du kannst sie hören, wenn du aufmerksam genug lauschst. Sie flüstert...«
»Nisi Nirwana.«
»Ja.«
»Ich vergesse es nicht«, versprach Gentle. »Nisi Nirwana.«
Er schloß die Augen - als sei der Name ein Segen, der ihm Schutz gewähren konnte - und brach auf. Celestine gab ihren Gefühlen nicht nach, erhob sich und zog das Laken wieder zu den Schultern hoch, als sie zur Treppe trat.
»Jetzt spreche ich mit Sartori.«
»Das dürfte schwierig werden«, sagte Judith. »Gek-a-gek halten vor der geschlossenen Tür Wache.«
»Auch er ist mein Sohn«, entgegnete Celestine und sah nach oben. »Er wird mich ins Zimmer lassen.«
Mit diesen Worten stieg sie die Treppe hoch.
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KAPITEL 60
l
Als Gentles Geist aus dem Haus schwebte, dachte er nicht an den Vater in der Ersten Domäne, sondern an die Mutter, die er nun zurückließ. Seit der Rückkehr vom Turm der Tabula Rasa hatten sie kaum Zeit miteinander verbracht, und nun betrachtete er die entsprechenden Szenen noch einmal: Einige Minuten lang kniete er an Celestines Bett, während sie ihm die Geschichte von Nisi Nirwana erzählte; er umarmte sie im Regen der Göttin und schämte sich, weil er sie begehrte; und er lag in ihren Armen, während Blut aus seinen Wunden tropfte.
Kind, Liebhaber und Leiche - der Zyklus eines Lebens. Damit mußte er sich zufriedengeben.
Er verstand nicht ganz, warum ihn Celestine zur Ersten Domäne schickte, gehorchte aber trotzdem. Bestimmt hatte sie gute Gründe, und er mußte ihnen vertrauen, gerade jetzt, nachdem seine Bemühungen auf so persönliche Weise gescheitert waren. Auch in dieser Hinsicht blieb ihm vieles rätselhaft. Es war alles so schnell gegangen! Im einen Augenblick noch hatte ihn eine so große Entfernung von seinem Körper getrennt, daß er ihn fast vergaß - und dann fand er sich plötzlich im Meditationszimmer wieder: Judith entlockte ihm Schreie, indem sie ihm an einer sehr empfindlichen Stelle Schmerzen bereitete, und hinter ihr eilte Sartori mit glänzenden Messern die Treppe hoch. Als er den Tod im Gesicht seines Bruders sah, wurde ihm klar, warum Pie'oh'pah mit solchem Nachdruck betont hatte, wie wichtig es sei, daß er sich vor Sartori schützen müsse. Ihr Vater zeigte sich in jenem Gesicht, in dieser Mischung aus Verzweiflung und Gewißheit, die es zum Ausdruck brachte. Vermutlich war er von Anfang an darin gewesen, ohne daß Gentle diese 1261
Wahrheit erkannt hatte. Immer sah er nur die eigene, verzerrte Schönheit und empfand es als angenehm, der Himmel für die Hölle des Bruders zu sein. Was für eine Farce! Die ganze Zeit über war er Werkzeug des Vaters gewesen, sein Bote, sein Narr. Und diese Erkenntnis wurde ihm nur zuteil, weil Judith ihn aus dem Ana gezerrt und ihm den Zerstörer gezeigt hatte, in all seinen schrecklichen Einzelheiten.
Doch das Begreifen kam zu spät, und für Gentle gab es kaum mehr eine Möglichkeit, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Er konnte nur hoffen, daß seine Mutter besser als er wußte, wo der letzte Hoffnungsschimmer glühte.
Jetzt schlüpfte er in eine andere Rolle, reiste als Celestines Bote zur Ersten Domäne, um dort das Feuer des Vaters herauszufordern.
Gentle beherzigte den Rat seiner Mutter und nahm den längeren Weg, passierte noch einmal jene Regionen, die er während der Überprüfung der Rekonziliationssynode gesehen
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