Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
einzelne Detail enthüllte.
    Verzweiflung leuchtete in seinen Augen, und Staub bedeckte die trockenen Lippen. Unter der blassen, fast völlig farblosen Haut zeichnete sich der Schädelknochen ab, und die Zähne formten ein verhängnisvolles Lächeln. Es war der Tod. Wenn Jude das trotz ihrer Liebe zu ihm erkannte, so mußte auch Gentle dazu imstande sein.
    Ein dritter Schritt... Sartori hob die beiden Dolche über den Kopf. Judith wich nicht zur Seite oder nach hinten, sie wandte ihm das Gesicht zu. Eine Herausforderung: Konnte er die Schönheit zerstören, die er eben noch mit seinen Fingern berührt hatte?
    »Ich wäre für dich gestorben«, sagte er leise. Die Klingen hatten unterdessen den Scheitelpunkt ihrer Bahn erreicht und wiesen nach unten. »Warum bist du nicht bereit, dein Leben für mich zu opfern?«
    Sartori wartete keine Antwort ab und stieß zu. Scharfer Stahl raste Judiths Augen entgegen, und aus einem Reflex heraus drehte sie den Kopf. Doch bevor die beiden Messer Wange und Hals trafen, stimmte der Rekonziliant ein Heulen an, das den ganzen Raum erzittern ließ. Die Flammen der auf dem Kaminsims brennenden Kerzen erloschen, aber es folgte keine Dunkelheit: Die Steine des Kreises glühten nun wie Kohlen, sprühten Spritzer aus Licht, die über die Wände tanzten. Gentle stand am Rand des Kreises, und in der einen Hand hielt er den Grund für das jähe Chaos. Er hatte einen Stein ergriffen, sich damit bewaffnet und gleichzeitig den Kreis unterbrochen.
    Natürlich kannte er den Ernst dieser Maßnahme: Kummer prägte seine Züge, ein Leid, das sein ganzes Denken und Fühlen zu bestimmen schien. Eine hoch erhobene Hand 125
    2

    umklammerte den Stein, doch er verharrte nun in Reglosigkeit, wie vom eigenen Handeln entsetzt.
    Judith stand auf, als das Zittern um sie herum noch heftiger wurde. Die Bodendielen vermittelten nach wie vor den Eindruck zuverlässiger Festigkeit, aber Finsternis kroch über sie hinweg und schien ihnen jede Substanz zu rauben. Jude sah die Nägel im Holz, doch der Rest war jetzt pechschwarz.
    Langsam ging sie zum Rand des Kreises, und es hatte den Anschein, als führte der Weg über gähnende Leere hinweg.
    Das Zittern und Beben bekam nun eine akustische Untermalung: Es knackte und knirschte in Dielen und Mörtel.
    Außerdem vernahm Judith ein dumpfes Brodeln, dessen Ursache sie erst am Kreisrand erkannte. Die Dunkelheit unter ihr stellte tatsächlich eine gewaltige Leere dar: es war das In Ovo, durch den unterbrochenen Kreis geöffnet. Und in jenem Nichts sah sie dämonisches Leben, das nun die Chance erkannte, alle Fesseln abzustreifen und über andere Welten herzufallen.
    Die Gek-a-gek an der Tür knurrten und grollten lauter, als sie die bevorstehende Freiheit ihrer Artgenossen spürten. Doch so gefährlich sie auch sein mochten: Beim sich anbahnenden Massaker konnten sie kaum hoffen, mehr als nur eine Nebenrolle zu spielen. Unten in der Schwärze manifestierten sich Gestalten, neben denen Sartoris Diener harmlos und verspielt wirkten: so seltsame Entitäten, daß Judith sie nur als Schemen zu erkennen vermochte, als ein dunkles Etwas, in dem das Verderben wohnte. Grauen keimte in ihr, und gleichzeitig wußte sie, daß keine andere Möglichkeit existierte, um die Rekonziliation zu verhindern. Die Geschichte würde sich wiederholen und den Maestro zum zweiten Mal verdammen.
    Gentle bemerkte die aufsteigenden Oviaten ebenfalls und erstarrte. Jude wollte verhindern, daß er den Kreis wieder vervollständigte, und deshalb streckte sie die Hand nach dem 1253

    Stein aus, um ihn durchs Fenster nach draußen zu werfen. Aber bevor ihre Finger ihn berührten, glitt der Blick des Rekonzilianten zu ihr. Die Pein verschwand aus seinen Zügen, und Wut ersetzte sie.
    »Wirf den Stein weg!« verlangte die Frau.
    Doch Gentle sah nicht mehr Judith an, sondern etwas - oder jemanden - hinter ihr. Sartori! Sie warf sich zur Seite, als die Messer erneut zustoßen wollten, hielt sich am Kaminsims fest und beobachtete die beiden Brüder: der eine mit Dolchen bewaffnet, der andere mit einem Stein.
    Sartori wandte sich kurz zur Seite, als Judith wegsprang, und Gentle zögerte nicht, diese gute Gelegenheit zu nutzen. Er schlug mit dem Stein zu, und Funken stoben, als ein Messer davonflog. Der Maestro zielte sofort nach dem zweiten, aber Sartori zog es zurück, bevor ein Kontakt mit dem Stein erfolgen konnte, und so begnügte sich Gentle mit der leeren Hand. Die Knochen seines Bruders knackten laut genug,

Weitere Kostenlose Bücher