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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hatte. Unterwegs wünschte er sich, eine Pause einlegen und den neuen Tag zusammen mit den anderen Maestros genießen zu können, aber das kam natürlich nicht in Frage.
    Er erhaschte einen kurzen Blick auf sie und stellte fest, daß sie die letzten hektischen Minuten im Ana überlebt hatten.
    Inzwischen waren sie in ihre jeweiligen Domänen zurückgekehrt und feierten den Triumph. Tick Raw hüpfte auf dem Gipfel des Berges Lipper Bayak umher und heulte wie ein Irrer, weckte alle Schlafenden in Vanaeph und erschreckte die Wächter in den Wachtürmen von Patashoqua. In Kwem kletterte Scopique am Hang der Zapfengrube empor - an diesem Ort hatte er während der Zusammenführung gesessen, und Freudentränen glitzerten in seinen Augen, als er gen Himmel sah. In Yzordderrex kniete Athanasius vor dem Eurhetemec-Kesparat und tauchte die Hände ins Wasser einer Quelle, die vor ihm aus dem geborstenen Straßenpflaster sprudelte; das Naß sprang zu seinem blutigen Gesicht empor und 126
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    beleckte ihn wie die Zunge eines Hundes. An der Grenze zur Ersten Domäne wurde Gentles Ich langsamer. Chicka Jackeen beobachtete hier die Rasur, wartete darauf, daß sich die Barriere auflöste und ihm einen Blick in die Domäne des Gottes Hapexamendios gewährte.
    Er wandte sich von der Leere ab, als er die Präsenz des Rekonzilianten spürte.
    »Maestro?« fragte er.
    Gentle wünschte es sich, mit Jackeen zu sprechen - er bedeutete ihm noch mehr als die anderen Mitglieder der Synode -, Celestines Auftrag mit ihm zu erörtern. Aber er wagte es nicht. Die göttliche Entität hinter der Rasur mochte in der Lage sein, Gespräche zu belauschen, die in unmittelbarer Nähe der Barriere stattfanden, und Gentle wußte, daß er Jackeen gegenüber der Versuchung einer Warnung erlegen wäre. Deshalb befahl er sein Selbst weiter und hörte nur noch, wie Chicka seinen Namen nannte. Bevor er den Ruf ein drittes Mal wiederholen konnte, flog er durch das Nichts der Rasur und in die Domäne dahinter, dabei vernahm er noch einmal die Stimme seiner Mutter:
    » Und sie begab sich in eine Stadt voller Greuel, wo kein Geist heilig war und kein Fleisch heil.«
    Dann lag die Barriere hinter ihm, und er schwebte am Rand der Stadt Gottes.
    Kein Wunder, daß mein Bruder ein Baumeister gewesen ist, dachte er. Hier gab es genug Inspirationen für eine ganze Nation genialer Architekten. Dies war das Werk von Äonen, geschaffen von einem Wesen, das Äonen nicht mehr Bedeutung beimaß als Menschen einigen wenigen Sekunden.
    Vor Gentle erstreckte sich majestätische Pracht in allen Richtungen. Die Straßen waren breiter als jene Autobahn, die von Patashoqua zum Gebirge reichte, und so gerade, daß sie erst am Fluchtpunkt verschwanden. Und die Gebäude... Sie ragten so hoch auf, daß man den Himmel erahnen mußte. Doch 1263

    ganz gleich, ob Sonnen oder Monde am Firmament dieser Domäne leuchteten - die Stadt brauchte ihren Glanz nicht.
    Pflaster und Hauswände enthielten Stränge aus Licht, deren Allgegenwart die Schatten verbannte und nur vage Schemen in fernen Ecken erlaubte.
    Zuerst setzte Gentle den Weg langsam fort und rechnete damit, schon bald einem Bewohner der Stadt zu begegnen.
    Doch er überquerte ein halbes Dutzend Kreuzungen, ohne jemand zu sehen, und daraufhin wurde er schneller und verringerte die Geschwindigkeit nur dann, wenn er Bewegungen bemerkte. Allerdings gelang es ihm nicht, ein Gesicht zu erkennen, und er war nicht dreist genug, um einfach in ein Haus vorzudringen und sich darin umzusehen. Aber mehrmals fielen ihm zitternde Gardinen auf, als sei gerade ein neugieriger Beobachter vom Fenster fortgewichen. Es existierten noch andere Hinweise auf solche Präsenzen. Über Balustraden gehängte Teppiche schwankten hin und her - noch vor wenigen Sekunden schien jemand damit beschäftigt gewesen zu sein, den Staub aus ihnen zu klopfen. Die Blätter von Weinreben senkten sich, als Pflücker in die Anonymität ihrer Häuser flohen.
    Gentle war schneller, als es ein Fahr- oder Flugzeug sein konnte, aber er schaffte es nicht, jene Nachricht zu überholen, die alle Personen veranlaßte, sich vor ihm zu verbergen. Die Bewohner der Stadt ließen nichts zurück: kein Haustier, kein Kind, keinen Abfall, keine Graffiti. Jeder von ihnen schien das Musterbeispiel eines braven Bürgers zu sein; alle führten ihr Leben hinter zugezogenen Vorhängen und geschlossenen Türen.
    Eine solche Metropole verlangte rege Aktivität, und die derzeitige Leere hätte vermutlich

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