Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
um die knurrenden Stimmen der Oviaten und das Knirschen in den Dielen zu übertönen.
    Der gefallene Herrscher schrie und hielt die gebrochene Hand dem Bruder vors Gesicht, schien Reue von ihm zu erwarten. Als er Gentles Blick eingefangen hatte, geriet die andere Hand in Bewegung. Der Rekonziliant sah sie aus den Augenwinkeln und versuchte, ihr mit einer schnellen Drehung zu entgehen, aber die Schneide traf seinen Arm, riß ihn vom Handgelenk bis zum Ellbogen auf. Er ließ den Stein fallen und tastete nach der blutigen Wunde. Sartori nutzte seinen Vorteil, trat in den Kreis und holte erneut aus.
    Gentle konnte sich nicht mehr verteidigen, wich zurück, stolperte und fiel. Sofort war der Gegner über ihm. Ein Stich hätte nun genügt, um das Leben des Maestros zu beenden, doch Sartori wollte den Triumph auskosten. Rittlings saß er auf seinem Bruder und bohrte den Dolch immer wieder in Gentles Arme.
    125
    4

    Judith hielt auf den wie substanzlosen Dielen nach dem zweiten Messer Ausschau, wurde aber von den gräßlichen Oviaten abgelenkt. Gegen jene Wesen konnte sie mit der Klinge nichts ausrichten, aber sie war damit in der Lage, Sartori in den Tod zu schicken - was seinem Wunsch entsprach. Ihre Blicke huschten hin und her, doch der Dolch schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
    Lautes Schluchzen veranlaßte sie, sich wieder dem Kreis zuzuwenden. Gentle lag noch immer unter seinem Bruder und war schwer verletzt: die Brust aufgeschnitten; Hals, Wangen und Schläfen zerkratzt; die Arme zerstochen. Das Schluchzen kam jedoch nicht von ihm, sondern von Sartori. Er hob das Messer nun und schrie noch einmal, bevor er die Klinge in das Herz des Wehrlosen rammte.
    Doch er beklagte den Tod seines Ebenbildes zu früh, denn Gentle fand noch Kraft genug, sich ein letztes Mal zu wehren.
    Die Klinge fand nicht etwa das Herz, sondern bohrte sich unter dem Schlüsselbein ins Fleisch. Sartoris blutbesudelte Finger rutschten am Heft ab, und er machte keine Anstalten, das Messer aus der Wunde zu ziehen. Es war auch nicht nötig.
    Gentle zuckte noch einmal, und dann erschlaffte er, rührte sich nicht mehr.
    Sartori erhob sich und sah einige Sekunden lang auf den reglosen Körper hinab, bevor er sich dem Spektakel der Leere zuwandte. Die Oviaten kamen immer näher, aber er blieb ruhig stehen und betrachtete das dunkle Panorama. Schließlich wanderte sein Blick zu Judith.
    »Ach, Liebste...«, hauchte er. »Sieh nur, was du angerichtet hast. Dem Himmlischen Vater bin ich nun überantwortet.«
    Er bückte sich, griff nach Gentles Stein und fügte ihn so dem Kreis hinzu, als handelte es sich um den letzten Pinselstrich an einem großartigen Gemälde.
    Der vorherige Zustand wurde nicht sofort wiederhergestellt.
    Die abscheulichen Gestalten in der Tiefe schwebten auch 1255

    weiterhin empor, und ihre fratzenhaften Mienen offenbarten Zorn, als sie begriffen, daß der Weg aus dem In Ovo versperrt war. Das Glühen der Steine ließ allmählich nach, doch bevor ihr Licht ganz erlosch, zischte Sartori einen Befehl für die Geka-gek. Sie verließen ihre Plätze an der Tür und näherten sich, wobei die flachen Köpfe fast über den Boden strichen. Jude glaubte zunächst, daß es die Wesen auf sie abgesehen hatten, doch kurz darauf stellte sich heraus: Es ging ihnen um Gentle.
    Am Kreis kroch das eine Wesen nach rechts und das andere nach links; dann beugten sie sich vor, griffen fast behutsam nach dem Rekonzilianten und hoben ihn hoch.
    »Die Treppe hinunter«, sagte Sartori, und daraufhin kehrten die Gek-a-gek in Richtung Tür zurück und überließen den Kreis seinem neuen Herrn.
    Eine seltsame, schreckliche Stille herrschte nun. Die letzten finsteren Reste des In Ovo verflüchtigten sich ebenso wie das Glühen in den Steinen. Eine andere Art von Dunkelheit verdichtete sich, und Judith sah, wie Sartori in der Mitte des Kreises Platz nahm.
    »Nein, bitte nicht...«, sagte sie.
    Er drehte sich halb um und seufzte; vielleicht überraschte es ihn, daß Jude noch immer im Zimmer weilte.
    »Es ist bereits vollbracht«, erklärte er. »Der Kreis muß nur bis Mitternacht stabil bleiben.«
    Judith hörte ein lautes Stöhnen im Erdgeschoß, als dem sah, was die Gek-a-gek zur Treppe brachten. Ein dumpfes, rhythmisches Pochen folgte, und sie stellte sich vor, wie der Leib des Rekonzilianten von einer Stufe zur anderen rollte. Gleich kehren die Oviaten zurück, um auch mich zu holen, dachte sie.
    Es blieben ihr nur wenige Sekunden, um Sartori aus dem Kreis zu

Weitere Kostenlose Bücher