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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Schwermut und Melancholie zum Ausdruck gebracht, wenn nicht die Bauwerke gewesen wären. Sie bestanden aus Materialien, die sich durch eine große Vielfalt an Beschaffenheit und Farbe auszeichneten. Hinzu 126
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    kam das Licht. Diese beiden Faktoren verliehen der Stadt eine besondere Form von Vitalität, erfüllten die Straßen und Plätze mit eigenem Leben. In ihrer Palette hatten die Konstrukteure auf Grau und Braun verzichtet und statt dessen Schieferplatten, Steine und Fliesen verwendet, die in allen denkbaren Farben und Nuancen schillerten. Kein Architekt in der Fünften hätte sich getraut, sie zu einer so kühnen Mischung zusammenzustellen. So präsentierten alle Straßen ein überaus beeindruckendes Spektakel: Fassaden aus Lila und Bernsteingelb; Kolonnaden aus funkelndem Purpur; Plätze aus Ocker und Blau. An vielen Stellen in diesem farblichen Durcheinander gleißten scharlachrote Töne mit blendender Intensität oder ein ebenso perfektes Weiß. Hier und dort sah Gentle einige Schnipsel aus Schwarz: eine einzelne Fliese, ein einzelner Mauerstein, vielleicht der Saum zwischen zwei Platten.
    Doch selbst so erhabene Schönheit konnte verblassen. Nach tausend derartigen Straßen - von imposanten Gebäuden gesäumt, in üppigen Farben bemalt - wurde die Pracht zuviel.
    Mit Dankbarkeit und Erleichterung nahm Gentle das Flackern in einer Nebenstraße zur Kenntnis: Es war hell genug, um für wenige Sekunden die Farben von den Fassaden der nächsten Gebäude zu tilgen. Er orientierte sich, begann mit der Suche nach dem Ursprung der Blitze und erreichte einen Platz, in dessen Mitte ein Nullianac stand: Die Gestalt hatte den Kopf weit nach hinten geneigt, und Funken lösten sich daraus, die lautlos zum Himmel emporrasten. Nie zuvor hatte Gentle ein Wesen gesehen, das über soviel Energie gebot. Dieser Nullianac - und wahrscheinlich auch seine Brüder - verfügte über göttliche Macht zwischen den betenden Händen seines Gesichts. Dem Zerstörungspotential dieses Geschöpfs schienen überhaupt keine Grenzen gesetzt zu sein...
    Jetzt spürte es die Nähe einer anderen Präsenz, schickte keine Blitze mehr zum Firmament und stieg vom Platz in die 1265

    Höhe, um nach dem Unsichtbaren zu suchen. Gentle wußte nicht, ob er dieses Wesen in seinem gegenwärtigen Zustand fürchten mußte. Wenn die Nullianacs jetzt Hapexamendios Elitetruppen darstellten... Vielleicht hatte Er sie mit besonderer Autorität ausgestattet. Andererseits: Es nützte nichts, sich jetzt zurückzuziehen.
    Wenn er keine Auskunft bekam, sucht er vielleicht für immer und ewig nach seinem Vater, ohne Ihn jemals zu finden.
    Der Nullianac war nackt, aber die Blöße brachte weder Erotik noch Verletzlichkeit zum Ausdruck. Die Haut leuchtete fast so hell wie das Feuer zwischen den beiden Kopfhälften.
    Gentle konnte nirgends Geschlechtsorgane und dergleichen erkennen; außerdem fehlten Haare, Brustwarzen und Nabel.
    Das Geschöpf drehte sich mehrmals um die eigene Achse und hielt nach dem Selbst Ausschau, dessen Nähe es fühlte.
    Vielleicht ging seine gewaltige Vernichtungskraft mit Einschränkungen des üblichen Wahrnehmungsspektrums einher - es sah den Reisenden erst, als die Entfernung nur noch wenige Meter betrug.
    »Suchst du nach mir?« fragte Gentle.
    Das Wesen lokalisierte ihn, und destruktive Energie flackerte zwischen den beiden bandförmigen Schädelkomponenten. Ihr Knistern und Knacken untermalte eine alles andere als melodische Stimme.
    »Maestro«, sagte der Nullianac.
    »Du weißt, wer ich bin?«
    »Natürlich«, bestätigte das Geschöpf. »Natürlich.«
    Fasziniert kam das Geschöpf näher. Irgend etwas in seinem Gebaren erinnerte Gentle an die hoch aufgerichtete Kobra eines Schlangenbeschwörers.
    »Warum bist du hier?« fragte der Nullianac.
    »Ich möchte zu meinem Vater.«
    »Ah...«
    »Ich bin gekommen, um Ihn zu ehren.«
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    »Das gilt für uns alle.«
    »Kannst du mich zu Ihm bringen?«
    »Er befindet sich überall«, sagte die Gestalt. »Diese Stadt gehört Ihm, und Er weilt in jedem Staubkorn von ihr.«
    »Wenn ich Worte an den Boden richte - spreche ich dann zu Ihm?«
    Der Nullianac überlegte.
    »Nein...«, antwortete er schließlich. »Sprich nicht zum Boden.«
    »Vielleicht zu den Wänden? Zum Himmel? Zu dir? Ist mein Vater in dir?«
    »Nein«, erwiderte das Wesen. »Eine solche Behauptung käme Anmaßung gleich...«
    »Dann bring mich bitte zu einem Ort, an dem Ihn meine Worte erreichen. Die Zeit ist knapp.«
    Dieser

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