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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hat mich fast erreicht, und ich habe Angst. Was gab es sonst noch zu sagen?
    Gentle und der Nullianac flogen mit hoher Geschwindigkeit, 1269

    doch dadurch erweckte die Stadt nicht den Eindruck, kleiner zu werden. Eher traf das Gegenteil zu. Als die Minuten verstrichen und zahllose Straßen unter ihnen hinweggesaust waren - gesäumt von Gebäuden, die alle aus dem gleichen bunten Stein bestanden und die alle am Gewölbe des Himmels zu kratzen schienen -, wirkte die Metropole nicht mehr episch, sondern wie Gestalt gewordener Wahnsinn. Farben, Geometrie und Details der Stadt mochten schön, ästhetisch und sogar wundervoll sein, aber das änderte nichts an dieser Wahrheit: Die Metropole war das Ergebnis von Demenz. Sie stellte eine neurotische Vision dar, die Heilung ablehnte, die jeden Quadratzentimeter dieser Domäne beanspruchte, um sie in ein Monument der eigenen Unerbittlichkeit zu verwandeln. Noch immer fehlte in den Straßen jede Spur von Leben, und Gentles Verwunderung wich allmählich einer Ahnung, die er schließlich in Worte faßte.
    »Wer wohnt hier?« fragte er.
    »Hapexamendios.«
    »Und wer sonst?«
    »Dies ist Seine Stadt«, sagte der Nullianac.
    »Gibt es keine anderen Bewohner?«
    »Dies ist Seine Stadt.«
    Anders ausgedrückt: Die Metropole war leer. Jene Bewegungen der Gardinen, Teppiche und Weinrebenblätter, die Gentle ganz zu Anfang aufgefallen waren... Entweder hatte er sie selbst verursacht, oder sie verdankten ihre Existenz göttlicher Absicht: Vielleicht sollten die Häuser den Anschein erwecken, bewohnt zu sein. Ein von Hapexamendios ersonnenes Spiel, um sich die Zeit zu vertreiben, eine Zeit, die man in Jahrhunderten oder Jahrtausenden messen mußte.
    Nachdem Gentle immer wieder auf Straßen hinabgeblickt hatte, die überhaupt keine Unterschiede aufwiesen, sich wie ein Ei dem anderen glichen, beobachtete er in Flugrichtung subtile Veränderungen. Die strahlenden Farben wurden dunkler, sie 127
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    sahen jetzt aus wie eine Flüssigkeit, die den Stein so sehr erfüllte, daß sie aus ihm herauszuquellen begann. Die Fassaden wiesen noch komplexere Einzelheiten auf und schienen nun absolut perfekt. Gentle glaubte, daß sie sich jetzt dem Kern der Stadt näherten, von dem aus alles andere gewachsen war, und zwar letzteres als Kopie, die nicht ganz so gut sein konnte wie ihr Original.
    Der Nullianac beendete sein Schweigen und bestätigte damit Gentles Vermutung, daß die Reise zu Ende ging.
    »Er wußte, daß du kommen würdest. Er schickte einen meiner Brüder zum Rand, um nach dir Ausschau zu halten.«
    »Gibt es viele von euch?«
    »Ja«, sagte das Wesen. »Viele weniger zwei.« Er blickte den Maestro an. »Das weißt du natürlich. Du hast zwei von uns getötet.«
    »Andernfalls hätten sie mich umgebracht.«
    »Was für unseren Stamm Anlaß gewesen wäre, sehr stolz zu sein«, erwiderte der Nullianac. »Den Sohn Gottes getötet zu haben...«
    Er lachte, während die blitzartigen Entladungen zwischen den beiden handförmigen Schädelhälften knisterten - ein Todesröcheln klang humorvoller.
    »Hast du keine Angst?« fragte Gentle.
    »Wovor sollte ich Angst haben?«
    »Vor dem Zorn meines Vaters. Wenn Er dich hört...«
    »Er braucht meine Dienste«, sagte das Geschöpf. »Und ich hänge nicht am Leben.« Nach einer kurzen Pause fügte es hinzu: »Obgleich ich es bedauern würde, nicht zu sehen, wie die Domänen brennen.«
    Gentle bedachte den Nullianac mit einem verwirrten Blick.
    »Dazu bin ich geboren«, lautete die Erklärung. »Ich habe zu lange gelebt, um das Ende zu verpassen.«
    »Wie alt bist du?«
    »Jahrtausende, Maestro. Viele, viele Jahrtausende.«
    1271

    Diese Mitteilung stimmte Gentle sehr nachdenklich. Mit einem Wesen unterwegs zu sein, das viel länger zu den Lebenden zählte als er und die nun bevorstehende Vernichtung als letztendlichen Lohn seiner Existenz erachtete... Wie lange dauerte es noch, bis es diese besondere Belohnung in Empfang nehmen konnte? Ohne Atem und Herzschlag hatte das Zeitgefühl des Rekonzilianten gelitten: Er wußte nicht, wann er zu der körperlosen Reise aufgebrochen war, vor zwei, fünf oder zehn Minuten. Nun, solche Überlegungen mußten ohnehin ohne Bedeutung bleiben. Die erfolgreiche Zusammenführung verlieh Hapexamendios völlige Freiheit bei der Wahl des Zeitpunkts. Gentle hielt den Umstand, daß ihm der Nullianac auch weiterhin Gesellschaft leistete, für ein gutes Zeichen: Er wäre bestimmt fortgeeilt, wenn der Weltenbrand unmittelbar

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