Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
bevorgestanden hätte.
    Nach einer Weile wurde das Geschöpf langsamer und glitt tiefer, bis sie nur noch wenige Zentimeter über dem Boden schwebten. Die Gebäude vor ihnen waren noch prachtvoller verziert als in den übrigen Bereichen der Stadt: Überall an den Mauern, Fassaden und Kanten zeigten sich kompliziert anmutende Elaborationen und Ausschmückungen. Doch darin kam keine Schönheit zum Ausdruck - eher Besessenheit. Etwas Krankhaftes fand darin Niederschlag, etwas Groteskes, das pathologische Ausmaße gewann. Die gleiche Dekadenz betraf auch die Farben, deren verschwenderische Fülle Gentle in den Randzonen der Stadt bewundert hatte. Hier existierten keine Nuancen mehr. Alle Farben wetteiferten mit Scharlachrot, erfüllten die Luft nicht mit buntem Zauber, sondern schienen ihr Wunden zufügen zu wollen. Darüber hinaus trübte sich hier das Licht. Nach wie vor glühten helle Stränge in Steinen und Fliesen, aber die Myriaden Verzierungen in der Nähe verschlangen ihr Leuchten, und dadurch entstand eine sonderbare Düsternis.
    »Ich kann dich nur bis hierher begleiten, Rekonziliant«, 127
    2

    sagte der Nullianac. »Von jetzt an mußt du allein weiter.«
    »Soll ich meinem Vater sagen, wer mich hierhergebracht hat?« Gentle hoffte, einige zusätzliche Informationen zu bekommen, bevor er Hapexamendios gegenübertrat.
    »Ich habe keinen Namen«, verkündete das Wesen. »Ich bin mein Bruder, und mein Bruder ist ich.«
    »Ich verstehe. Schade.«
    »Aber du hast mir ein freundliches Angebot unterbreitet, und dafür möchte ich mich erkenntlich zeigen.«
    »Ja?«
    »Nenn mir einen Ort, den ich in deinem Namen zerstören soll - ich verspreche dir, daß ich mich persönlich darum kümmern werde. Eine Stadt. Ein Land. Was auch immer.«
    »Warum glaubst du, daß mir etwas an Zerstörung liegt?«
    fragte Gentle.
    »Weil du der Sohn des Vaters bist«, antwortete der Nullianac. »Du teilst Seine Wünsche.«
    Gentle wußte, daß er auch weiterhin vorsichtig sein mußte, aber er ließ sich seinen Ärger trotzdem anmerken.
    »Ich soll nichts für dich zerstören?« fragte das Geschöpf mit knisternder, knarrender Stimme.
    »Nein.«
    »Dann kann dir niemand von uns etwas schenken.« Mit diesen Worten drehte sich der Zerstörer um, stieg auf und flog fort.
    Gentle hielt den Nullianac nicht zurück, um sich bei ihm nach dem Weg zu erkundigen. Für ihn gab es jetzt nur noch eine Richtung, und die hieß: vorwärts. Zum Herzen der Stadt, das in Prunk und Pomp erstickte. Er war natürlich fähig, mit der Schnelligkeit von Gedanken zu reisen, aber er wollte auf jeden Fall vermeiden, den Unerblickten mißtrauisch zu stimmen, und deshalb bewegte er sich wie ein Fußgänger, obwohl er auch weiterhin ein substanzloses Phantom blieb. Er wanderte jetzt zwischen Gebäuden, die so sehr mit 1273

    Verzierungen beladen waren, daß sie Gefahr zu laufen schienen, unter dieser Last einzustürzen.
    Die erhabene Herrlichkeit der Randbezirke wich Dekadenz, und die Dekadenz ging nun in Pathologisches über - Abscheu und Ekel in Gentle metamorphierten zu etwas, das an Panik grenzte. Daß Exzesse allein genügten, um ihn zu einer solchen Reaktion zu veranlassen, war erstaunlich genug. Wann hatte er sich zum Moralisten bekehren lassen? Er, der skrupellose Kopist, der Sybarit, der nie genug sagen konnte, geschweige denn zuviel. Welcher Wandel hatte ihn erfaßt? Durch ein ganz spezielles Schicksal war er zu einem körperlosen Ästheten geworden, den die Stadt seines Vaters mit Entsetzen konfrontierte.
    Von dem Architekten war weit und breit nichts zu sehen.
    Weiter vorn wich das Licht völliger Finsternis, und einer solchen Dunkelheit wollte sich Gentle nicht aussetzen. Er blieb stehen und fragte schlicht und einfach:
    »Vater?«
    Zwar fehlte es seiner Stimme an Autorität, doch in der Stille klang sie recht laut und mußte jede Schwelle im Umkreis von zwölf Straßen erreichen. Aber wenn Hapexamendios hinter einer der betreffenden Türen wohnte, so gab Er keine Antwort.
    Gentle versuchte es noch einmal.
    »Ich möchte dich sehen, Vater.«
    Während er diese Worte formulierte, behielt er die schattige Straße im Auge und suchte nach Hinweisen auf den Aufenthaltsort des Unerblickten. Nichts regte sich, und alles blieb still. Nach einigen Sekunden gewann eine Erkenntnis erste noch undeutliche Konturen in ihm: Einerseits mochte sein Vater abwesend sein, aber andererseits war er trotzdem dort vorn. Und auch links. Und auch rechts. Sowohl oben als auch unten.

Weitere Kostenlose Bücher