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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Die glänzenden Vorhänge an den Fenstern dort drüben: Falten aus lebender Haut. Der Torbogen auf der anderen Seite: Knochen. Der scharlachrote Boden und die Fliesen mit den 127
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    leuchtenden Strängen: Fleisch. Gentle spürte Mark und Zähne,
    Wimpern und Nägel. Der Nullianac hatte nicht von einem Geist gesprochen, als er meinte, Hapexamendios sei überall in der Metropole. Dies war die Stadt Gottes - und Gott war die Stadt.
    Zweimal in seinem Leben hatte Gentle diese Offenbarung vorausgeahnt. Zum erstenmal kurz nach seiner Ankunft in Yzordderrex: Die Stadt war als eine Art Gott bezeichnet worden und stellte Sartoris unbewußten Versuch dar, das Meisterwerk seines Vaters nachzuahmen. Zum zweiten Mal während des Analogisierens in Vorbereitung der Rekonziliation: Als das Netz seines Ehrgeizes ganz London aufnahm, hatte er gefühlt, daß in der Stadt nichts existierte -
    von den Kloaken bis hin zu den Prachtbauten -, für das es kein Äquivalent in seiner Anatomie gab.
    Hier bekam er den Beweis für seine Theorie. Doch dieses Wissen verlieh Gentle keine Kraft, sondern verstärkte das Unbehagen in ihm, als er an die Gewaltigkeit seines Vaters dachte. Er hatte einen Kontinent oder noch mehr überquert, um diesen Ort zu erreichen, und die endlose urbane Landschaft repräsentierte den Körper des Gottes: Hapexamendios Substanz war zahllose Male dupliziert worden, um den Steinmetzen, Tischlern, Maurern und Mörtelträgern genug Rohstoffe und Baumaterialien zu liefern. Und doch... die Stadt mochte riesig sein, aber was stellte sie dar? Eine Falle des Körperlichen, mit dem Architekten als Gefangenen.
    »O Vater...«, seufzte Gentle. Die Förmlichkeit verschwand aus seiner Stimme, und Kummer erklang nun darin - vielleicht wurde er deshalb mit einer Antwort belohnt.
    »Du hast Mir gute Dienste geleistet«, ertönte es.
    Der monotone Klang dieser Stimme erschien Gentle vertraut.
    Zum erstenmal hatte er sie im Schatten des Zapfens gehört.
    »Dir gelang es, einen Erfolg zu erzielen - im Gegensatz zu deinen Vorgängern«, fuhr Hapexamendios fort. »Sie kamen 1275

    vom rechten Weg ab oder ließen sich kreuzigen. Doch du bist dem eingeschlagenen Pfad unbeirrbar gefolgt, und er führte dich zum Ziel, Rekonziliant.«
    »Um deinetwillen, Vater.«
    »Für diese guten Leistungen hast du einen Platz an diesem Ort verdient«., sagte der Gott. »In Meiner Stadt. In Meinem Herzen.«
    »Danke«, erwiderte Gentle und fürchtete ein Ende des Gesprächs.
    Wenn es tatsächlich bei diesem kurzen Wortwechsel blieb, so hatte er als Beauftragter seiner Mutter versagt. »Sag Ihm, daß du Ihn sehen möchtest« - so lauteten Celestines Worte.
    »Halte Ihn auf. Schmeichle Ihm.« O ja, Schmeicheleien!
    »Ich möchte jetzt von dir lernen, Vater«, sagte er. »Ich möchte imstande sein, deine Weisheit mitzunehmen, wenn ich in die Fünfte zurückkehre.«
    »Du hast dein Werk vollbracht, Rekonziliant«, entgegnete Hapexamendios. »Es ist nicht nötig, daß du zur Fünften zurückkehrst, weder für Mich noch für dich selbst. Bleib bei Mir und beobachte, wie ich Mein Werk vollbringe.«
    »Was für ein Werk meinst du?«
    »Du kennst es«, lautete die Antwort des Gottes. »Ich habe gehört, wie du mit dem Nullianac gesprochen hast. Warum gibst du Unwissenheit vor?«
    Die Veränderungen Seines Tonfalls waren zu subtil, um gedeutet zu werden. Basierte die Frage allein auf Neugier?
    Oder erklang darin auch Zorn, welcher der mangelnden Offenheit des Sohnes galt?
    »Ich wollte nicht von irgendwelchen Annahmen ausgehen, Vater«, sagte Gentle und verfluchte sich für seinen Fehler. »Ich dachte, du wolltest mir alles erzählen.«
    »Warum sollte ich dir Dinge schildern, über die du bereits Bescheid weißt?« Der Gott schien nicht geneigt zu sein, dieses Thema ruhen zu lassen - er verlangte eine überzeugende 127
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    Antwort. »Du hast alle notwendigen Informationen...«
    »Nicht alle«, widersprach Gentle, der nun eine Chance sah, das Gespräch in eine neue Richtung zu lenken.
    » Was fehlt dir?« fragte Hapexamendios. »Ich gebe dir in jeder Hinsicht Auskunft.«
    »Dein Gesicht, Vater.«
    »Mein Gesicht? Was ist mit Meinem Gesicht?«
    »Das fehlt mir: der Anblick deines Gesichts.«
    »Du hast Meine Stadt gesehen. Also kennst du Mein Gesicht.«
    »Gibt es wirklich kein anderes, Vater?«
    »Bist du nicht damit zufrieden?« fragte Hapexamendios.
    »Die Stadt ist perfekt. Sie glänzt und schimmert.«
    »Die Stadt ist zu perfekt, Vater. Sie erstrahlt mit zuviel

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