Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Pracht.«
    » Wie kann etwas zu perfekt und zu prächtig sein?«
    »Ein Teil von mir ist menschlicher Natur, und in jenem Teil wohnt Schwäche, Vater. Ich betrachte diese Stadt und bin verblüfft. Sie stellt ein Meisterwerk dar...«
    »Ja.«
    »Sie verrät Genialität.«
    »Ja.«
    »Aber ich bitte dich, Vater: Gewähre mir einen einfacheren Anblick. Zeig mir das Gesicht, dem ich mein eigenes Gesicht verdanke - damit ich jenen Teil von mir kenne, der von dir stammt.«
    In der Luft zischte etwas - ein göttlicher Seufzer?
    »Es mag dir seltsam erscheinen«, sagte Gentle, »aber ich bin auch deshalb dem rechten Weg bis hierher gefolgt, weil ich dein Gesicht sehen wollte. Ein Gesicht, daß mir väterliche Liebe zeigt.« Diese Worte enthielten genug Wahrheit, um echte Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen. Gentle hatte sich tatsächlich gewünscht, am Ende seiner Reise ein Gesicht zu finden. »Oder erhoffe ich mir zuviel?«
    1277

    In der Dunkelheit weiter vorn bewegte sich etwas, und der Maestro spähte in die Finsternis, rechnete fast damit, daß sich vor ihm ein gewaltiges Portal öffnete. Statt dessen sagte Hapexamendios:
    »Dreh dich um, Rekonziliant.«
    »Möchtest du, daß ich diesen Ort verlasse?«
    »Nein. Du sollst den Blick abwenden.«
    Ein seltsames Paradoxon: Gentle wollte sehen, doch jetzt sollte er auf die visuelle Wahrnehmung verzichten. Wie dem auch sei: Irgend etwas bahnte sich nun an. Zum erstenmal hörte er Geräusche, die nicht auf eine Stimme zurückgingen: leises Knistern und Platschen, dumpfes Knarren und Surren. In der Nähe des Phantoms von der Erde kam es zu winzigen Bewegungen: Das Monolithische schien weicher zu werden und sich jenem Mysterium entgegenzuneigen, dem Gentle den Rücken zuwandte. Eine Stufe klappte auf, und Mark tropfte daraus hervor. Eine Wand öffnete sich dort, wo Kante an Kante stieß, und ein dunkles, fast schwarzes Scharlachrot formte schmale Rinnsale, als die Platten ihre Geometrie aufgaben und sich dem Unerblickten zur Verfügung stellten. Zähne regneten von einem sich auflösenden Balkon herunter, und Gedärme entrollten sich von Fensterleisten und Schwellen. Gewe-befladen begleiteten sie.
    Als sich dieser Prozeß des Destrukturierens fortsetzte, riskierte es Gentle, die göttliche Aufforderung zu mißachten und einen Blick über die Schulter zu werfen. Hinter ihm war inzwischen die ganze Straße in Bewegung geraten. Dinge brachen auseinander, um es ihren Einzelheiten zu gestatten, ganz neue Formen zu bilden; Fragmente stiegen auf, während andere versanken. Das Durcheinander enthielt nichts Vertrautes, und Gentle wollte sich schon abwenden, als eine der plötzlich geschmeidigen Wände kippte - und dahinter für den Bruchteil einer Sekunde eine Gestalt sichtbar wurde. Der Maestro erkannte sie sofort, und ihre Züge verharrten vor 127
    8

    seinem inneren Auge, als er den Kopf wieder drehte. In ganz Imagica gab es kein anderes Gesicht dieser Art. Es war einzigartig und herrlich, trotz des Kummers und der Wunden.
    Pie lebte und wartete hier, im riesenhaften Leib von Hapexamendios, als Gefangener des Gefangenen. Gentle mußte sich sehr beherrschen, um seinen Geist nicht ins Chaos zu schleudern und von seinem Vater zu verlangen, den Mystif freizugeben. Alles in ihm drängte danach zu rufen: Das ist mein Lehrer, mein Erneuerer, mein über alles geliebter Freund. Aber er schwieg, weil er wußte: Derartige Verhaltensmuster mochten zu einer Katastrophe führen. Also blieb er still und wandte sich ab, hielt das Erinnerungsbild fest, während die Straße hinter ihm auch weiterhin zitterte und bebte. Der Körper des Mystifs wies zwar deutliche Spuren überstandenen Leids auf, aber Pie befand sich in einem viel besseren Zustand, als Gentle zu hoffen gewagt hatte. Vielleicht bezog er Kraft von dem Land, auf dem sich die Stadt des Gottes erhob, aus der Substanz jener Domäne, die Heimat seines Volkes gewesen war, bevor Hapexamendios kam, um hier Seine Metropole zu bauen.
    Wie konnte Gentle seinen Vater dazu bringen, den Mystif aus der Gefangenschaft zu entlassen? Mit Bitten? Mit weiteren Schmeicheleien? Während er noch darüber nachdachte, ließ der Lärm allmählich nach, und Hapexamendios sprach.
    »Rekonziliant?«
    »Ja, Vater?«
    »Du wolltest Mein Gesicht sehen.«
    »Ja, Vater.«
    »Dreh dich um.«
    Gentle gehorchte. Der dunkle Bereich hatte nicht alle Ähnlichkeit mit einer Straße verloren: Nach wie vor ragten rechts und links Gebäude mit Türen und Fenstern auf. Aber der

Weitere Kostenlose Bücher