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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Architekt hatte einen Teil ihrer Substanz beansprucht, um Gentles Wunsch zu genügen und einen Körper zu formen. An 1279

    der menschlichen Gestalt des ursprünglichen Vaters konnte kaum ein Zweifel bestehen, und sicher war Er in Seiner Ersten Inkarnation kaum größer gewesen als der Sohn. Aber entweder spielten Ihm die Erinnerungen jetzt einen Streich, oder Er wollte Eindruck schinden. Seine Größe betrug nun mindestens vier Meter - ein schwankender Riese, von der Straße geboren.
    Die enormen Ausmaße konnten nicht über eine auffallende Unausgewogenheit bei den Proportionen hinwegtäuschen.
    Hapexamendios schien vergessen zu haben, was es bedeutete, ein Ganzes zu sein. Die Schultern trugen einen gewaltigen Kopf, der aus den Splittern von tausend Schädeln zu bestehen schien, aber sie waren so ungeschickt zusammengefügt worden, daß zwischen ihnen der pulsierende, flackernde Glanz des Geistes sichtbar wurde. Ein Arm erwies sich als lang und dick, endete jedoch in einer winzigen Hand. Der andere wirkte verschrumpelt und offenbarte Finger mit jeweils drei Dutzend Gelenken. Auch der Torso fügte sich aus Komponenten zusammen, die nicht zueinander paßten. Die Innereien brodelten in einem Brustkasten aus mindestens fünfhundert Rippen, und Sein großes Herz klopfte hinter einem Brustbein, das viel zu zart und fragil anmutete: Schon jetzt entstanden erste feine Risse darin. Und weiter unten, in der Leistengegend, sah Gentle eine besonders seltsame Deformation: ein Geschlechtsteil, das Er nicht als einzelnes Organ geformt hatte, sondern als eine Mischung aus diversen Fleischfetzen.
    »Siehst du mich nun?«, fragte der Gott.
    Die Stimme hatte ihren gleichgültigen monotonen Klang verloren und hörte sich wie eine Mischung aus verschiedenen Stimmen an. Mehrere Kehlköpfe schienen sich zu bemühen, die einzelnen Silben zu formulieren.
    »Siehst du die.. ,«, Hapexamendios zögerte kurz, »... siehst du die Ähnlichkeit?«
    Gentle beobachtete das gräßliche Etwas. Sein Vater bot einen abscheulichen, entsetzlichen Anblick, aber die Antwort 128
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    lautete trotzdem: ja. Die Ähnlichkeit betraf nicht das äußere Erscheinungsbild, nicht die Gliedmaßen oder den Leib, auch nicht das Geschlecht. Aber sie existierte. Wenn Hapexamendios den riesigen Kopf hob, sah Gentle sein eigenes Gesicht in der Fratze, die am Schädel des Vaters klebte.
    Vielleicht handelte es sich nur um die Reflexion einer Reflexion einer Reflexion, hervorgerufen von halb geborstenen Spiegeln. Doch zumindest dieses Zerrbild ließ sich nicht leugnen - und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit großem Kummer.
    Sein Unbehagen bezog sich dabei nicht auf die Tatsache der Verwandtschaft, sondern ging aus dem Eindruck hervor, daß sie ihre Rollen plötzlich vertauschten. Trotz der Größe war sein Vater ein Kind:
    Der Kopf eines Fötus, die Gliedmaßen unbeholfen.
    Hapexamendios mochte Äonen alt sein, aber er hatte es nicht geschafft, das Fleischliche ganz abzustreifen. Gentle hingegen... Er trug noch immer die Last der Naivität, trat jedoch als körperloser Geist auf.
    »Hast du genug gesehen, Rekonziliant?« fragte der Gott.
    »Noch nicht ganz.«
    » Was willst du außerdem betrachten?«
    Gentle wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte. Er mußte die gute Gelegenheit nutzen, bevor die Ähnlichkeit verschwand und neuen Barrieren wich.
    »Ich möchte sehen, was sich in dir befindet, Vater.«
    »In Mir?«
    »Ich meine deinen Gefangenen, Vater. Ich möchte deinen Gefangenen sehen.«
    »Ich habe keinen Gefangenen.«
    »Ich bin dein Sohn«, betonte Gentle. »Das Fleisch deines Fleisches. Warum belügst du mich!«
    Der massige Schädel erbebte, und das Herz pochte schneller, wodurch die Frakturen im Brustbein wuchsen.
    »Gibt es etwas, das ich nicht erfahren soll?« Gentle näherte 1281

    sich dem deformen Leib. »Du hast versprochen, mir in jeder Hinsicht Auskunft zu geben.« Die Hände - groß und klein -
    zuckten und zitterten. »In jeder Hinsicht. Weil ich dir gute Dienste geleistet habe. Dennoch verschweigst du mir etwas.«
    »Ich habe keinen Anlaß, irgend etwas vor dir zu verbergen.«.
    »Dann zeig mir den Mystif. Laß mich Pie'oh'pah sehen.«
    Daraufhin zitterten nicht mehr nur die Hände des Gottes, sondern Seine ganze Gestalt - und mit ihr die Wände und Mauern. Unter dem lückenhaften Mosaik Seines Schädels blitzte es hier und dort: ein Feuer, das die Luft selbst zu verbrennen schien. Der Anblick erinnerte Gentle daran, daß er nur einen winzig kleinen

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