Imagica
Anblick des 227
ändern konnte wohl nicht die Wirkung eines Aphrodisiakums entfalten. Judith fragte sich, ob sie hierhergekommen war, um diesen Koitus zu beobachten, der ihr weder erotisch noch in irgendeiner Form lehrreich erschien. Das blaue Auge hatte sie bestimmt nicht durch die Stadt getragen und ihr Frauen-schicksale gezeigt, um sie schließlich Zeugin einer so freudlosen Vereinigung werden zu lassen. Gab es eine verborgene Botschaft? Nein, sie fand keinen Sinn in dem Keuchen. Ging es dabei vielleicht um die Bücher in den Regalen?
Sie schwebte näher, um die Titel zu lesen, doch ihr Blick reichte durch das Leder und Pergament bis hin zur Wand. Die Ziegel waren schlicht, doch der Mörtel zwischen ihnen vermittelte Judith einen unverkennbaren Hinweis. Er glühte in einem hellen Blau. Aufgeregt schwebte ihr körperloses Ich weiter, vorbei an dem Paar und den Büchern, hinein in die Mauer. Auf der anderen Seite war es dunkel, noch dunkler als zuvor draußen am Boden. Diese Art von Finsternis entstand nicht allein durch das Fehlen von Licht, sie basierte auf Kummer und Verzweiflung. Judes Instinkt verlangte von ihr, sofort zurückzuweichen, aber sie spürte etwas, das sie zögern ließ. Eine Gestalt zeichnete sich vage im Schwarz ab. Sie lag auf dem Boden, war von Kopf bis Fuß gefesselt und schien in einem Kokon zu stecken, der aus hauchdünnen Fäden bestand.
Judith konnte das Gesicht nicht erkennen, aber die allgemeine Form wies darauf hin, daß eine Frau vor ihr lag.
Weder Haare noch Zehen schauten unter den Fesseln hervor.
Judith schwebte über dem Leib und starrte darauf hinab, kam sich wie eine Ergänzung für ihn vor: dort ein Körper, hier ein Geist. Aber ich bin mehr als nur eine Seele, dachte sie und hoffte, daß dies der Wahrheit entsprach, daß sie nach der seltsamen Reise zurückkehren und wieder unter ihre fleckige Haut kriechen könne. Irgendetwas hielt sie aber nach wie vor fest - weder Dunkelheit noch Wände, eher der Eindruck, daß 228
etwas vollendet werden mußte.
Verlangten die Umstände ein Zeichen der Ehrfurcht von ihr?
Aber wie sollte sie sich ohne Kopf verbeugen, ohne Zunge und Hände beten? Sie konnte auch nicht niederknien oder die Gestalt berühren. Welche Möglichkeiten blieben ihr? Gott steh mir bei! fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn. Soll mein Geist in das Ding eindringen!
Unmittelbar im Anschluß an diesen Gedanken wußte sie, daß sie den Zweck ihres geistigen Ausflugs erkannt hatte. Sie war hier, um die Gefesselte mit ihrem Selbst auszufüllen, einen Leichnam, der sie vielleicht für immer festhielt. Abscheu durchzitterte ihr Ich, aber sie wußte, daß ihr gar keine Wahl blieb. Selbst wenn sie der Kraft widerstehen konnte, der sie ihren Aufenthalt an diesem Ort verdankte, selbst wenn sie imstande war, jener Macht zu trotzen und ins Haus ihres Körpers zurückzukehren - würde sie sich dann nicht für den Rest ihres Lebens fragen, was für ein Abenteuer sie versäumt hatte? Judith war kein Feigling: Sie beschloß, dem fremden Drängen nachzugeben, in die Leiche zu schlüpfen und sich mit allen Konsequenzen abzufinden.
Sofort setzte sich ihr sphärisches Selbst in Bewegung, sank der Gestalt entgegen und durchdrang den Kokon aus Fesseln.
Sie hatte Dunkelheit erwartet, doch statt dessen nahm sie Licht wahr. Milchiges blaues Schimmern - die Farbe der Geheimnisse - formte die Konturen innerer Organe. Nirgends lauerten Fäule oder Verwesung. Es schien sich weniger um einen Leichnam zu handeln, eher um eine Kathedrale, vielleicht um die Quelle der Heiligkeit, die Jude hier gespürt hatte. Auch eine Kathedrale bestand aus toten Mauern, und dieses Geschöpf war ebenso leblos. Das Herz pumpte kein Blut durch die Adern, und die Lungen füllten sich nicht mit Luft.
Judith dehnte ihr Ich aus, fühlte Länge und Breite des Körpers.
Die tote Frau war recht groß gewesen, mit breiten Hüften und vollen Brüsten. Überall schnitten die dünnen Fäden der Fesseln 229
in ihr Fleisch. Wie sehr mußte sie während der letzten Phase ihres Lebens gelitten haben, als sie blind in dieser Hülle lag und hörte, wie die Mauer des Grabes wuchs, Stein um Stein.
Jude fragte sich, welches Verbrechen eine derartige Strafe rechtfertigte. Durch wen war sie zum Tode verurteilt und hier eingemauert worden? Hatten die Unbekannten während der Arbeit gesungen? Hatten die Steine ihre Stimmen nach und nach gedämpft, bis schließlich Stille herrschte? Oder waren sie die ganze Zeit über stumm
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