Imagica
gewesen, beschämt von ihrer Grausamkeit?
Es gab so viele Fragen - und keine Antworten. Judith hatte ihre Reise mit Furcht und Verwirrung begonnen; diese beiden Begleiter wichen auch jetzt nicht von ihrer Seite. Es wurde Zeit, den Leichnam zu verlassen und heimzukehren. Sie streckte ihr Ich und befahl ihm, das tote blaue Fleisch zu verlassen, doch nichts geschah. Entsetzt stellte sie fest, daß sie im Innern der Gefangenen gefangen war. Gott steh mir bei!
dachte sie. Muß ich jetzt das Schicksal dieser Gestalt teilen!
Sie verdrängte die Panik und konzentrierte sich auf das Problem, dachte an ihren Flug, an jene Mauer, die sie so mühelos durchdrungen hatte, an den Himmel über den Kellergewölben. Doch Gedanken allein genügten nicht. Sie hatte der Neugier nachgegeben und zugelassen, daß ihr Selbst die Leiche ausfüllte, und nun beanspruchte die Tote das ihr fremde Ich.
Zorn brodelte in Judith, und sie kämpfte nicht dagegen an.
Die Wut war ein integraler Bestandteil von ihr, ebenso wie die Nase in ihrem Gesicht, und sie brauchte nun alles, das ihr gehörte, jeden einzelnen Aspekt ihrer Identität - nur dadurch konnte sie hoffen, genug Kraft zu finden. Sie stellte sich die Reaktionen ihres leiblichen Ichs vor: ein Herz, das schneller schlug; Adrenalin in den Adern.
Kurz darauf hörte sie etwas, das erste Geräusch seit Beginn ihrer Reise - ein leises, fast hektisches Pochen. Judith bildete es 230
sich nicht nur ein. Es vibrierte in dem ruhenden Körper, als ihr Zorn das Feuer des Lebens entzündete. Im Thronsaal des Kopfes erwachte ein schlafender Geist und spürte die Präsenz eines Eindringlings.
Einige herrliche Sekunden lang fühlte Jude ein fremdes und doch seltsam vertrautes Bewußtsein, und dann wurde sie von dem wachen Ich fortgestoßen, das hinter ihr entsetzt aufschrie, ein Geräusch, das auf die psychische Welt beschränkt blieb und nicht die Kehle erreichte. Der mentale Schrei folgte Judith durch Kerkerzelle und Mauer, vorbei an den Liebenden, die ihren Geschlechtsakt unterbrachen, als Staub auf sie herabrieselte, durch Erde und Regen, schließlich in eine Nacht, die keinen blauen Glanz brachte, nur Finsternis. Das Grauen der gefesselten Frau begleitete sie bis nach Hause, wo sie erleichtert feststellte, daß ihr Körper noch immer in dem von Kerzen erhellten Zimmer stand. Sie glitt mühelos hinein, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und schluchzte. Kühle ließ sie schon nach kurzer Zeit erschauern. Jude streifte den Bademantel über und bemerkte dabei, daß sich an Handgelenken und Ellenbogen keine blauen Flecken mehr zeigten. Sie ging ins Bad, trat vor den Spiegel und sah in ein sauberes Gesicht.
Noch immer fröstelnd ging sie wieder ins Wohnzimmer und suchte dort nach dem Stein. Das Statuenfragment hatte ein Loch in den Verputz geschlagen, war aber unbeschädigt und lag vor dem Kamin. Judith hob es nicht auf, aus Furcht vor einer zweiten geistigen Reise. Sie mied den Blick des blauen Auges, legte eine Decke über den Stein und nahm sich vor, ihn am nächsten Tag irgendwie loszuwerden. Jetzt brauchte sie jemand, dem sie von ihren Erlebnissen erzählen konnte, bevor sie selbst ihnen mit Zweifel begegnete. Jemand, der verrückt genug war, ihre Schilderungen nicht für hirnverbrannt zu halten. Jemand, der bereit sein mochte, ihr zu glauben: Gentle.
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KAPITEL 17
Gegen Mitternacht herrschte auf der Straße vor Gentles Atelier praktisch kein Verkehr mehr: Wer zu einer Silvesterparty unterwegs war, hatte sein Ziel inzwischen erreicht. Die Feiernden tranken, diskutierten oder verführten, dazu entschlossen, vom neuen Jahr jene Dinge zu verlangen, die ihnen das alte vorenthalten hatte. Gentle genoß es, allein zu sein. Im Schneidersitz saß er auf dem Boden, eine Flasche Bourbon zwischen den Knien. Um ihn herum warteten weiße Leinwand-Rechtecke darauf, mit Farben gefüllt zu werden.
Zacharias betrachtete ihre Leere und verglich sie mit der Zukunft, die ebenfalls ohne Inhalt zu sein schien.
Seit zwei Stunden hockte er in diesem leeren Kreis und trank ab und zu aus der Flasche - jetzt mußte er seine Blase entleeren. Gentle stand auf und ging ins Bad, verzichtete aber darauf, dort die Lampe einzuschalten, um nicht mit seinem Spiegelbild konfrontiert zu werden. Als er die letzten Tropfen ins Klosettbecken schüttelte, ging plötzlich das Licht im Nebenzimmer aus. Er zog den Reißverschluß zu und kehrte in den größeren Raum zurück. Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben,
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