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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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allein sein wolle. Die Vorstellung, daß er Judy jederzeit anrufen konnte, gewährte ihm Trost, und er versprach, sich bei ihr zu melden, wenn er einen Gesprächspartner brauchte.
    Eine der Partys, zu denen man sie eingeladen hatte, fand im Haus auf der anderen Straßenseite statt, und die Erfahrung vergangener Jahre lehrte, daß es dort recht turbulent zugehen würde. Diesmal fiel es Judith nicht schwer, auf heitere Ausgelassenheit zu verzichten: Sie teilte Clems Wunsch nach Einsamkeit. Warum ein neues Jahr feiern, das auf eine so tragische Weise begann? Judith zog die Vorhänge zu, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, zündete einige Kerzen an, wählte die Musik eines Flötenkonzerts und traf Vorbereitungen fürs Abendessen. Als sie sich die Hände wusch, fielen ihr an den Fingern bläuliche Verfärbungen auf. Während des Nachmittags hatte sie mehrmals den Stein hervorgeholt, um ihn nachdenklich hin und her zu drehen. Warum bemerkte sie erst jetzt, daß Flecken auf ihrer Haut zurückgeblieben waren? Sie rieb die Hände unter dem Wasserhahn, trocknete sie ab - und 223

    stellte verblüfft fest, daß die Farbe nicht etwa verschwunden war, sondern zu glänzen begann. Verwundert ging sie ins Bad, um das Phänomen im hellen Lampenlicht zu betrachten. Es handelte sich nicht um Staub, wie sie zuerst angenommen hatte. Die Farbpigmente schienen in die Haut eingedrungen zu sein, wie Hennafarbe. Außerdem beschränkte sich die Färbung nicht nur auf die Handflächen, sondern zeigte sich auch an den Gelenken, obwohl dort ein Kontakt mit dem Statuenfragment ausgeblieben war. Sie zog die Bluse aus und riß erschrocken die Augen auf: Auch an den Ellenbogen entdeckte sie hellblaue Flecken.
    Dann merkte Judith, daß sie mit sich selbst sprach, und das geschah nur, wenn irgend etwas sie zutiefst beunruhigte.
    »Was soll das bedeuten, zum Teufel? Laufe ich blau an? Das ist doch lächerlich.«
    Es mochte lächerlich sein, aber gewiß nicht komisch. Panik stieg kribbelnd in ihr auf. Hatte sie sich durch den Stein eine Krankheit geholt? War er aus diesem Grund so sorgfältig eingewickelt und verstaut gewesen?
    Sie streifte die Kleidung ab, und glücklicherweise entdeckte sie keine weiteren Flecken an ihrem Leib. In der Dusche ließ sie heißes Wasser auf sich herabprasseln, seifte sich gründlich ein und rieb an den hellblauen Stellen. Die Mischung aus Hitze und Panik führte zu einem leichten Schwindelanfall - Judith fürchtete plötzlich, in Ohnmacht zu fallen, trat aus der Kabine und wollte die Tür öffnen, damit kühle Luft ins Badezimmer strömen könne. Ihre Finger rutschten am Knauf ab, und als sie nach einem Handtuch greifen wollte, bemerkte sie ihr Abbild im Spiegel. Der Hals war blau. Ebenso die Haut neben und unter den Augen. Blau glänzte auch die Stirn, bis hinauf zum Haaransatz. Entsetzt stolperte sie zurück, bis sie die feuchten Fliesen am Rücken spürte.
    »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte sie laut.
    Erneut griff sie nach der Klinke, und diesmal gelang es ihr, 224

    die Tür zu öffnen. Jähe Kälte verursachte eine Gänsehaut an Beinen und Armen, doch Judith war dankbar dafür. Sie schauderte und floh vor ihrem Spiegelbild ins Wohnzimmer.
    Dort lag der Stein auf dem Couchtisch und starrte sie mit dem seltsamen Auge an. Sie erinnerte sich gar nicht daran, ihn der Handtasche entnommen und so auf den Tisch gelegt zu haben, von Kerzen umgeben. Unsicher verharrte sie im Bereich der Tür. Aus irgendeinem Grund regte sich Furcht in ihr, als verfüge das Statuenfragment über eine basiliskenartige Macht, die sie ebenfalls in Stein zu verwandeln drohte. Wenn das stimmte, gab es kaum mehr Hoffnung - Jude hatte das sonderbare Objekt mehrmals betrachtet, auch die Seite mit dem Auge. Schließlich verlieh ein gewisser Fatalismus ihr neue Kraft. Sie setzte sich in Bewegung, trat zum Tisch, griff nach dem Gegenstand, holte ohne zu zögern aus und schleuderte ihn an die Wand.
    Als er sich aus der Hand löste, begriff Judith ihren Fehler.
    Inzwischen hatte der Stein vom Raum Besitz ergriffen und dadurch mehr Realität gewonnen, als ihre Finger oder die Wand. Zeit und Raum waren Spielzeuge für ihn, und Jude setzte sein ganzes Potential frei, indem sie ihn zu zerstören versuchte. Sie bekam keine Gelegenheit, den Fehler zu korrigieren. Der Stein prallte mit einem lauten Pochen an die Wand, und im gleichen Augenblick fühlte Judith, wie sie aus ihrem Körper gezerrt wurde: Jemand schien ihr das Bewußtsein aus dem Kopf zu

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