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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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reißen und es durchs Fenster zu werfen. Der Leib verharrte im Wohnzimmer, ohne von der mentalen Reise betroffen zu werden. Nur das Sehvermögen blieb ihr, aber dieser eine Sinn genügte. Sie schwebte über die Straße, die im Licht der Laternen feucht glänzte, und näherte sich dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite. Vier Partygäste warteten dort - drei Männer und ein beschwipstes Mädchen -, und einer von ihnen klopfte ungeduldig an die Tür. Ein dicklicher Bursche küßte die junge Frau und betatschte dabei ihre Brüste.
    225

    Zwar kicherte die Namenlose, aber Judith sah das Unbehagen in ihr, beobachtete auch, wie sie hilflos die Fäuste ballte, als die Zunge des Mannes wachsenden Druck auf ihre Lippen ausübte. Schließlich öffnete sie den Mund, aus reiner Resignation. Wenig später schwang die Tür auf, und das Chaos der Party verschlang die vier Besucher. Judith stieg höher, segelte über den Dächern, sank gelegentlich tiefer und flog an Fenstern vorbei, die ihr andere Dramen zeigten.
    Es waren Fragmente, einzelne Szenen aus den weitaus komplexeren Theaterstücken des Lebens. Eine Frau in einem Mansardenzimmer, vor ihr auf dem Bett ein gestreiftes Kleid; eine andere, die am Fenster stand - Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor, während sich der Kopf langsam von einer Seite zur anderen neigte, im Takt einer Musik, die Judith nicht hören konnte; noch eine Frau, die zusammen mit anderen Personen an einem langen Tisch saß und plötzlich wie angewidert aufstand. Frauen, die Jude nicht kannte und die ihr trotzdem vertraut erschienen. Sie erinnerte sich nur an einen vergleichsweise kurzen Abschnitt ihres Lebens, aber in jenem Zeitraum hatte sie solche Empfindungen geteilt: Einsamkeit; Hilflosigkeit; Sehnsucht. Ein Muster offenbarte sich ihr. Die einzelnen Szenen symbolisierten Phasen ihres Lebens, in Gestalt von fremden Frauen.
    In einer dunklen Straße hinter King's Cross saß ein Pärchen im Wagen, und die Frau auf dem Beifahrersitz nahm den steifen Schwanz des Mannes in den Mund, ihre Lippen so rot wie menstruales Blut. Auch das kannte Judith aus eigener Erfahrung, entsann sich dabei an den Wunsch, geliebt zu werden. Und dann jene Frau, die an auf dem Bürgersteig paradierenden Huren vorbeifuhr und gerechten Zorn verspürte
    - sie selbst war es. Jude war auch die Schönheit, die den Liebhaber draußen im Regen verspottete - und auch der Zankteufel, der aus dem Fenster sah und applaudierte.
    Ihre Reise ging dem Ende entgegen. Sie erreichte eine 226

    Brücke, die ihr normalerweise ein prächtiges Panorama der Stadt dargeboten hätte, aber strömender Regen verhüllte die Ferne mit einem grauen Schleier. Judiths Geist schwebte weiter, ohne zu frieren, ohne naß zu werden, näherte sich einem dunklen Turm, der hinter einem Wall aus Bäumen aufragte. Unterwegs verlor sie an Geschwindigkeit, flog wie ein betrunkener Vogel durch das Gewirr aus Blättern, glitt dem Boden entgegen und kroch schließlich durch einen Kosmos, der aus völliger Schwärze bestand.
    Einige Sekunden lang stellte sich Judith voller Grauen vor, an diesem Ort lebendig begraben zu sein, doch dann wich die Dunkelheit neuerlichem Licht. Sie sank durch das Dach eines Kellers, an dessen Wänden sie nicht etwa Gestelle für Weinflaschen sah, sondern Regale. Glühbirnen hingen in den Korridoren, doch es ging ein nur matter Schein von ihnen aus.
    Die Luft schien dicht zu sein; der Grund war kein Staub, sondern etwas anderes, das Jude nur erahnte. Sie nahm die Präsenz von Heiligkeit und Macht wahr. So etwas hatte sie noch nie zuvor in ihrem Leben gefühlt, in keiner Kirche oder Kathedrale. Es weckte den Wunsch in ihr, wieder Fleisch zu sein, hier zu wandeln, die Bücher zu berühren, auch den Stein, die Luft zu riechen. Sicher mangelte es nicht an Staub, aber es handelte sich um sakralen Staub, jedes einzelne Korn so weise wie ein ganzer Planet.
    Judith bemerkte einen Schatten, der sich bewegte, und wandte sich in die entsprechende Richtung; dabei dachte sie an die vielen Bücher rechts und links von ihr - wovon berichteten sie? Der Schatten weiter vorn stammte nicht von einer Person, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern von zwei Individuen, im Geschlechtsakt vereint. Die Frau kehrte ihren Rücken den Büchern zu und hielt sich an einem der Regale fest. Der Mann hatte die Hose heruntergelassen, preßte sich mit pumpenden Hüften an seine Partnerin und schnaufte. Beide hatten die Augen geschlossen - der jeweilige

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