Imagica
und im trüben Schimmern der Straßenlaternen bemerkte Gentle, daß die Tür zur Treppe einen Spaltbreit offenstand.
»Wer ist da?« fragte er.
Es blieb völlig still im Zimmer, doch aus den Augenwinkeln nahm Zacharias eine Bewegung am Fenster wahr. Nur einen Sekundenbruchteil später wehte ihm ein Geruch entgegen, der von Kälte und Rauch kündete. Der Pfeifer! fuhr es Gentle durch den Sinn. Lieber Himmel, er hat mich gefunden!
Furcht machte ihn leichtfüßig. Von einem Augenblick zum anderen lief er los und eilte zur Tür. Die Gestalt im Zimmer hätte ihn sicher nicht daran hindern können, über die Treppe zu fliehen, aber Gentle blieb abrupt stehen, als er einen Hund auf 232
der obersten Stufe bemerkte. Das Tier sah zu ihm auf und wedelte mit dem Schwanz. Der Pfeifer mochte keine Hunde, woraus sich die Frage ergab: Wer war der Fremde im Zimmer?
Zacharias drehte sich um und tastete nach dem Lichtschalter, als die unverkennbare Stimme Pie'oh'pahs erklang.
»Bitte nicht. Die Dunkelheit ist mir lieber.«
Gentles Finger zuckten fort von dem Schalter, und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Doch der Grund dafür war jetzt keine Furcht mehr.
»Pie? Bist du das?« Es erschien ihm unangemessen, jenes Wesen auch weiterhin mit Sie anzureden.
»Ja, ich bin's«, bestätigte das Geschöpf. »Ein Freund von dir wies mich darauf hin, daß du nach mir suchst.«
»Ich habe dich für tot gehalten.«
»Ich war bei den Toten. Bei Theresa und den Kindern.«
»O Gott. O Gott...«
»Auch du hast jemanden verloren«, sagte Pie'oh'pah.
Es erschien Gentle nun angemessen, daß dieses Gespräch im Dunkeln stattfand. Die Finsternis symbolisierte den Tod, das Grab.
»Eine Zeitlang habe ich den Seelen meiner Kinder Gesellschaft geleistet. Dein Freund fand mich am Ort des Kummers und gab mir zu verstehen, daß du eine neuerliche Begegnung wünschst. Das überrascht mich, Gentle.«
»Und mich überrascht es, daß du mit Taylor gesprochen hast«, erwiderte Zacharias, obwohl er nach dem Besuch im Krankenzimmer eigentlich nicht erstaunt sein sollte. »Ist er glücklich?« fragte er. Die Frage mochte banal klingen, aber er wünschte sich trotzdem eine Antwort.
»Keine Seele ist glücklich«, entgegnete Pie. »Weil es keine Erlösung für sie gibt. Weder in dieser Domäne noch in einer anderen. Sie verharren an den Türen und hoffen, sie irgendwann aufbrechen zu können, aber ihre Reise ist ohne Ende.«
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»Warum?«
»Diese Frage wird seit vielen Generationen wiederholt, Gentle. Und bisher hat niemand eine Antwort darauf gefunden.
Als Kind hörte ich folgendes: Bevor der Unerblickte die Erste Domäne aufsuchte, existierte ein Ort, der alle Seelen aufnahm.
Damals lebte mein Volk in jener Domäne und hütete sie, doch der Unerblickte vertrieb sowohl die Geister der Verstorbenen als auch meine Ahnen.«
»Und deshalb irren die Seelen ziellos umher?«
»Ja. Es werden immer mehr, und auch ihr Leid wächst.«
Gentle dachte an einen Taylor, der auf dem Sterbebett von Erlösung geträumt hatte, davon, ins Absolute zu schweben.
Aber wenn Pie recht hatte... Dann befand sich sein Ich nun an einem Ort der verlorenen Seelen, ohne Fleisch und Offenbarung. Was nützte ihm das Wissen, wenn er es mit dem immerwährenden Aufenthalt in der Vorhölle bezahlen mußte?
»Wer ist der Unerblickte?« erkundigte sich Gentle.
»Hapexamendios, der Gott von Imagica.«
»Ist er auch der Gott dieser Welt?«
»Das war er einst. Doch er verließ die Fünfte, durchstreifte die übrigen Domänen und vertrieb andere heilige Entitäten.
Schließlich gelangte er zum Ort der Seelen und schuf dort einen Schleier...«
»Wodurch er zum Unerblickten wurde.«
»So hat man es mich gelehrt, ja.«
Pie'oh'pah wählte einfache Worte für seinen Bericht, und deswegen klang alles recht überzeugend. Trotzdem: Es war nur eine Geschichte von Göttern und anderen Welten, ohne eine Verbindung mit diesem dunklen Zimmer und dem kalten Regen, der über die Fensterscheiben rann.
»Woher soll ich wissen, ob du die Wahrheit sagst?« fragte Gentle.
»Es gibt keine Sicherheit für dich - es sei denn, du siehst alles mit eigenen Augen«, erwiderte Pie'oh'pah. Seine Stimme 234
klang fast erotisch; er sprach im Tonfall eines Verführers.
»Wie soll das möglich sein?«
»Wenn du Auskunft möchtest, so rate ich dir, mir nur direkte Fragen zu stellen, keine allgemeinen.«
»Na schön: Kannst du mich zu den Domänen bringen?«
»Dazu bin ich imstande.«
»Ich möchte den
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