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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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klingenden Worten. Der Atem reicht völlig aus. Atem und Wille.«
    »Wenn es nur darum geht - an Entschlossenheit mangelt es mir nicht«, erwiderte Gentle.
    »Dann sollten sich eigentlich keine Probleme ergeben. Atme so fest aus, daß dir die Lungen schmerzen. Ich erledige den Rest.«
    »Kann ich nachher wieder einatmen?«
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    »Nicht in dieser Domäne.«
    Erst jetzt begriff Zacharias, was bevorstand: Sie schickten sich an, die Erde zu verlassen. Sie traten über den Rand der einzigen ihm bekannten Realität hinaus ins Ungewisse. Er lächelte unsicher in der Finsternis, und seine Hand schloß sich um Pies Finger.
    »Ist es soweit?« fragte er.
    Das Wesen lächelte ebenfalls; seine Zähne glänzten.
    »Warum nicht?«
    Gentle holte Luft. Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloß, und er hörte Schritte auf der Treppe, die zum Atelier führte. Doch es war bereits zu spät für Unterbrechungen. Er atmete durch die geballte Faust aus, und Pie'oh'pah schien den Hauch zu ergreifen. Irgend etwas entflammte in der Hand des Mystifs und brannte hell genug, um durch die winzigen Lücken ihrer gekrümmten Finger zu gleißen...
    Judith öffnete die Tür - und sah etwas, das sie an Gentles Gemälde erinnerte: zwei Gestalten, fast Nase an Nase, die Gesichter von einem mysteriösen Licht erhellt, das wie eine Explosionswolke zwischen ihnen anschwoll. Ihr blieb gerade noch Zeit genug, Zacharias und sein Gegenüber zu erkennen, zu beobachten, wie sie beide lächelten, bevor eine entsetzliche Metamorphose begann. Ihre Körper schienen sich irgendwie umzustülpen. Judes Blick fiel auf etwas Feuchtes und Rotes, das sich innerhalb weniger Sekunden dreimal hintereinander zusammenzog, wobei die Gestalten immer mehr schrumpften, bis nur mehr scheibenartige Dinge übrigblieben, die ebenfalls schrumpften und sich schließlich in Nichts auflösten.
    Judith spürte, wie ihr die Knie weich wurden; sie lehnte sich an den Türpfosten und bebte am ganzen Leib. Der Hund, den sie vor der Tür angetroffen hatte, lief zu jener Stelle, wo Gentle und der Fremde gestanden hatten - doch dort gab es keinen Zauber mehr, der ihn ebenfalls hätte verschwinden lassen können. Das Atelier war leer. Wo auch immer sich Zacharias 238

    jetzt befand: Judith hatte keine Möglichkeit mehr, mit ihm zu reden.
    Diese Erkenntnis veranlaßte sie zu einem zornigen Schrei, der den Hund so erschreckte, daß er sich hinter die Couch duckte. Inständig hoffte sie, daß Gentle sie ebenfalls gehört hatte. Sie war gekommen, um ihm von ihren Erlebnissen zu erzählen, zusammen mit ihm zu versuchen, die Geheimnisse zu lüften. Aber er hatte die ganze Zeit über geplant, allein aufzubrechen, ohne sie. Ohne sie!
    »Was fällt dir ein?« zischte sie, und ihre Frage galt der Leere im Zimmer.
    Der Hund winselte, und seine Furcht besänftigte Judith. Sie hockte sich hin.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Komm. Ich bin nicht böse auf dich, sondern auf den verdammten Mistkerl Gentle.«
    Das Tier zögerte erst, doch dann kam es hinter der Couch hervor, näherte sich vorsichtig und wedelte dabei mit dem Schwanz. Judith kraulte es hinter den Ohren, und die Berührung vermittelte Ruhe. Es war nicht alles verloren. Was hinderte sie daran, sich ein Beispiel an Gentle zu nehmen? Er hatte die Bereitschaft zum Abenteuer nicht für sich allein gepachtet. Ja, sie würde einen Weg finden, ihm zu folgen, selbst wenn sie dazu den blauen Stein Stück für Stück verspeisen mußte.
    Während sie darüber nachdachte, läuteten Kirchenglocken und verkündeten den Beginn des neuen Jahres. Autohupen heulten auf der Straße, und die Feiernden im Haus nebenan jubelten.
    »Hurra«, flüsterte Judith, und in ihrem Gesicht zeigte sich jener gedankenverlorene Ausdruck, von dem im Lauf der Jahre viele Männer geträumt hatten. An die meisten von ihnen erinnerte sie sich nicht mehr. Namenlose, die um ihre Gunst rangen, dabei die Ehefrauen aufgaben oder gar den Verstand verloren - alle vergessen. Die Vergangenheit war für Jude nie 239

    sehr wichtig gewesen. Ihr kam es nur auf die Zukunft an, jetzt mehr denn je.
    Männer hatten die Kapitel des Vergangenen geschrieben.
    Doch die Zukunft, schwanger mit Möglichkeiten, kam in der Gestalt einer Frau.
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KAPITEL 18
l
    Die Stadt Patashoqua befand sich am Rand der Vierten Domäne, in der Nähe jenes Bereichs, wo das In Ovo die Grenze der zusammengeführten Welten kennzeichnete. Bis zum Aufstieg von Yzordderrex - den der Autokrat gefördert hatte, wobei politische

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