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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Hund zu lieben...«
    Pie'oh'pah sah sich kurz um. »Es wäre mir nur unter besonderen Umständen möglich gewesen, deinen Vorstellungen zu genügen.«
    Dutzende von Fragen - biologischer, philosophischer und libidinöser Natur - beschäftigten Gentle. Er blieb kurz stehen und wandte sich Pie zu.
    »Ich möchte dir beschreiben, was ich sehe«, sagte er. »Damit du Bescheid weißt.«
    »In Ordnung.«
    »Bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße würde ich dich für eine Frau halten...« Zacharias neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Oder vielleicht auch nicht. Es käme vermutlich aufs Licht an, und auf deine Gangart.« Er lachte.
    »Lieber Himmel: Je aufmerksamer ich dich beobachte, um so mehr sehe ich, und je mehr ich sehe...«
    »...desto unsicherer wirst du.«
    »Ja. Eines steht fest: Du bist kein Mensch. Und mehr als ein Mann.« Gentle schüttelte den Kopf. »Sehe ich dich überhaupt so, wie du wirklich bist? Ich meine, ist dies die endgültige, vollständige Version?«
    »Natürlich nicht. In uns beiden warten noch viel seltsamere Aspekte darauf, Gestalt anzunehmen. Das weißt du bestimmt.«
    »Davon höre ich jetzt zum erstenmal«, widersprach Gentle.
    »Niemand zeigt sich so, wie er wirklich ist«, sagte Pie'oh'pah. »Mit einer derartigen Nacktheit würden wir uns gegenseitig die Augen ausbrennen.«
    »Aber dies bist du.«
    »Zumindest jetzt.«
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    »Und du gefällst mir«, gestand Gentle. »Bei einer Begegnung auf der Straße brächte ich es möglicherweise nicht fertig, dich anzusprechen, aber ich wäre sicher bereit, dir nachzusehen. Was hältst du davon?«
    »Kann ich mir mehr wünschen?«
    »Werde ich andere Wesen wie dich kennenlernen?«
    »Das könnte sein«, sagte Pie. »Allerdings: Es gibt nur wenige Mystifs. Wenn einer geboren wird, so feiert mein Volk.«
    »Wie heißt es? Dein Volk, meine ich.«
    »Man nennt uns Eurhetemecs.«
    »Treffen wir dort einige deiner Artgenossen?« Gentle deutete zur Barackenstadt.
    »Das bezweifle ich. Aber in Yzordderrex leben bestimmt welche. Dort haben wir ein Kesparat.«
    »Ein Kesparat?« wiederholte Zacharias verwirrt.
    »So nennt man einen Distrikt, beziehungsweise ein Stadtviertel. Die Eurhetemecs bilden eine Gemeinschaft in Yzordderrex. Besser gesagt: Das war früher der Fall. Seit meinem letzten Aufenthalt in der Stadt sind zweihunderteinundzwanzig Jahre vergangen.«
    »Meine Güte! Wie alt bist du?«
    »Ich kam vor über dreihundert Jahren zur Welt. Für dich mag das außergewöhnlich klingen, aber die Zeit verstreicht langsamer für einen Körper, der von Feits berührt wurde.«
    »Feits?«
    »Magie. Zauber. Thaumaturgie. So etwas funktioniert selbst bei einer Hure wie mir.«
    »Wie bitte?« brachte Gentle verdutzt hervor.
    »Du hast richtig gehört. Auch darüber solltest du dir klar sein. Vor langer Zeit sagte man mir, ich würde mein Leben als Hure oder Assassine verbringen. Nun, ich bin sowohl das eine als auch das andere geworden.«
    »Aber diese Phase deiner Existenz geht nun zu Ende!«
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    »Was bin ich von jetzt an?«
    »Mein Freund«, erwiderte Gentle sofort.
    Der Mystif lächelte. »Danke.«
    Zacharias schwieg nachdenklich, während sie Seite an Seite über den Hügelhang wanderten.
    »Zeig dein Interesse nicht zu offen«, riet Pie seinem menschlichen Gefährten, als sie den Rand der Barackenstadt erreichten. »Verhalt dich wie jemand, der an einen solchen Anblick gewöhnt ist.«
    »Das wird mir nicht gerade leichtfallen«, prophezeite Gentle.
    Er behielt recht. Als sie durch die Gassen zwischen den Hütten schritten, glaubte sich Zacharias in eine Welt versetzt, deren Luft evolutionären Ehrgeiz beinhaltete - jeder Atemzug schien Veränderung zu bedeuten. Hundert Arten von Augen spähten aus Türen und Fenstern. Hundert Arten von Gliedmaßen und Körpern gingen der täglichen Routine nach: Sie kochten und werkten; sie entzündeten Feuer und wuschen Kinder; sie besiegelten geschäftliche Vereinbarungen und Verschwörungen; sie gaben und empfingen Liebe. Schon nach wenigen Metern starrte Gentle auf den schlammigen Boden, aus Furcht, von der enormen Fülle des Fremdartigen überwältigt zu werden. Hinzu kamen die Gerüche: aromatisch und widerlich, sauer und süß. Er vernahm Geräusche, die Schädel und Eingeweide vibrieren ließen.
    Nichts in seinem bisherigen Leben - oder in seinen Träumen
    - hatte Gentle auf so etwas vorbereitet. Er kannte die Meisterwerke der größten Visionäre - er erinnerte sich daran, einen passablen Goya gemalt

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