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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Luft in seine Lungen.
    »Nicht übel«, sagte Pie. »Wir haben es geschafft, Gentle.
    Eine Zeitlang bin ich ganz und gar nicht sicher gewesen, aber wir haben es wirklich geschafft!«
    Der Gürtel verband noch immer die beiden Handgelenke, und damit zog Pie den Menschen auf die Beine.
    »Hoch mit dir!« sagte der Mystif. »Du solltest die Reise nicht auf den Knien beginnen.«
    In dieser Welt war es heller Tag. Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Gentle und schimmerte wie ein grüner und goldener Pfauenschweif. Zacharias hielt vergeblich nach Sonne und Mond Ausschau. Das Licht schien aus der Luft selbst zu stammen und gab ihm nun Gelegenheit, Pie zu mustern. Der 243

    Mystif trug die gleiche Kleidung wie auf dem Platz mit dem Wohnwagen, obgleich sie an einigen Stellen angesengt war und viele Blutflecken aufwies - vielleicht gedachte er auf diese Weise der Opfer des Feuers. Aber er hatte sich das Gesicht gewaschen, und seine Haut glänzte.
    »Es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte Gentle.
    »Mich auch.«
    Pie begann damit, den Gürtel zu lösen, und Gentle ließ den Blick durch die Domäne schweifen. Sie standen auf der Kuppe des Hügels, etwa einen halben Kilometer von einer Barackenstadt entfernt, in der es recht laut zuging. Sie dehnte sich am Fuß des Hügels aus, wucherte auf einer baumlosen, ockerfarbenen Ebene. Eine breite Straße, auf der dichter Verkehr herrschte, führte durch das Elendsviertel zu den Türmen und Minaretten einer funkelnden Metropole.
    »Patashoqua?« fragte Gentle.
    »In der Tat.«
    »Dein Orientierungssinn hat dich also nicht getäuscht.«
    »Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß er sich als so genau herausstellt. Angeblich rastete Hapexamendios auf diesem Hü-
    gel, unmittelbar nach seiner Ankunft in der Vierten Domäne.
    Die Anhöhe heißt Lipper Bayak, aus welchem Grund auch immer.«
    »Wird die Stadt belagert?« erkundigte sich Gentle.
    »Nein, ich glaube nicht. Die Tore scheinen geöffnet zu sein.«
    Zacharias spähte zu den fernen Mauern. Ja, die Tore standen tatsächlich offen. »Wer sind all diese Leute? Flüchtlinge?«
    »Wir fragen sie, wenn sich eine Gelegenheit ergibt«, erwiderte Pie.
    Gentle fühlte, wie ihm der Gürtel vom Handgelenk rutschte., Er rieb sich die entsprechende Stelle und sah dabei über den Hang. Zwischen den improvisierten Behausungen wandelten Wesen, die kaum Ähnlichkeiten mit Menschen aufwiesen, aber es gab auch viele andere, die wie ganz normale Männer und 244

    Frauen aussahen. Wir brauchen also nicht zu befürchten, in dieser Umgebung aufzufallen, dachte Zacharias.
    »Ich brauche Informationen von dir, Pie«, sagte er. »Wer ist wer? Und was ist was? Wird hier Englisch gesprochen?«
    »Früher war es eine sehr beliebte Sprache«, entgegnete Pie.
    »Ich bezweifle, ob sie aus der Mode geraten ist. Nun, bevor wir die Stadt besuchen, solltest du mehr über deinen Reisebegleiter erfahren. Andernfalls verwirren dich vielleicht die Reaktionen der Leute auf mich.«
    »Erklär es mir unterwegs«, sagte Gentle. Er wollte die fremden Wesen unbedingt aus der Nähe sehen.
    »Wie du wünschst.« Sie schritten den Hang hinab. »Ich bin ein Mystif, und mein Name lautet Pie'oh'pah. Soviel weißt du.
    Doch mein Geschlecht ist dir unbekannt.«
    »Darf ich raten?«
    Pie lächelte. »Nur zu.«
    »Du bist ein Hermaphrodit, ein Zwitter. Stimmt's?«
    »Zum Teil.«
    »Und du kannst auf ziemlich eindrucksvolle Art Illusionen schaffen. Das habe ich in New York erlebt.«
    »Das Wort Illusion gefällt mir nicht. Es legt nahe, daß ich über die Realität hinwegtäusche, was keineswegs der Fall ist.«
    »Wie würdest du deine Gabe bezeichnen?«
    »In New York wolltest du Judith, und deshalb hast du sie gesehen. Das Trugbild wurde von dir selbst geschaffen.«
    »Und du hast nichts dagegen unternommen.«
    »Weil ich bei dir sein wollte.«
    »Und jetzt?« fragte Gentle. »Zeigst du dich mir in deiner wahren Gestalt?«
    »Ich versuche nicht, dich irrezuführen - wenn du das meinst.
    Deine Wahrnehmung bestimmt mein Erscheinungsbild.«
    »Und andere Leute?«
    »Sehen mich auf ihre eigene Weise. Manche halten mich für einen Mann, andere für eine Frau.«
    245

    »Kannst du zu einem Weißen werden?«
    »Sicher, für ein paar Sekunden. Nun, wenn es an jenem Abend im Hotelzimmer hell gewesen wäre... Dann hättest du sofort gewußt, daß nicht Judith bei dir im Bett lag. Doch gestatte mir noch einen Konjunktiv: Wenn du dir gewünscht hättest, ein achtjähriges Mädchen oder einen

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