Imagica
zu haben, und bei einer anderen Gelegenheit hatte er mit einem Ensor viel Geld verdient -, doch der Unterschied zwischen Farbe und Realität war gewaltig.
Erst hier und jetzt wurden ihm die Ausmaße der enormen Kluft zwischen Leinwand und Wirklichkeit klar. Bei dieser Welt handelte es sich nicht um einen imaginären Ort, und die Bewohner stellten keine experimentellen Variationen bereits 248
bekannter Phänomene dar. Die Vierte Domäne existierte für sich allein, ohne eine Verbindung mit dem, was Zacharias für vertraut hielt. Als er wieder den Kopf hob, bereit für eine neuerliche Konfrontation mit dem Sonderbaren, stellte er dankbar fest: Pie und er befanden sich nun in einem Teil der Barackenstadt, der vielen Menschen als Heimat diente. Doch auch hier fehlte es nicht an Überraschungen. Ein dreibeiniges Kind huschte durch die Gasse, und als es sich umsah, erkannte er, daß sein Gesicht so verschrumpelt war wie das einer Leiche in der Wüste, und das dritte Bein entpuppte sich als Schwanz.
Nach einigen weiteren Schritten bemerkte Gentle eine Frau, die vor einer nahen Tür saß. Ein Mann kämmte ihr das Haar, und als Zacharias in ihre Richtung sah, rückte sie ihren weiten Umhang zurecht. Darunter hockte ein zweiter Mann - die Haut schuppig, das Auge ein breiter Streifen, der um den ganzen Kopf reichte -, der mit der spitzen Handkante Hieroglyphen in den Bauch der Frau ritzte. Gentle hörte mehrere verschiedene Sprachen, doch die meisten hiesigen Wesen schienen sich mit Englisch zu verständigen, wobei unterschiedliche labiale Anatomien zu stark ausgeprägten Akzenten führten. Manche sangen ihre Worte; andere schienen sie zu erbrechen.
Doch jene Stimme, die in einer Gasse auf der rechten Seite ertönte, hätte in jeder beliebigen Straße von London erklingen können: Ein lautes, wichtigtuerisches Lispeln forderte Gentle und seinen Begleiter zum Stehenbleiben auf. Sie sahen in die Richtung, aus der die Anweisung kam. Die Menge teilte sich, schuf Platz für eine aus vier Individuen bestehende Gruppe.
»Stell dich dumm«, flüsterte der Mystif Zacharias zu, als der Lispelnde - dick und häßlich, der Schädel kahl bis auf einige lächerlich anmutende, ölig glänzende Locken - näher stapfte.
Er war gut gekleidet, trug schwarze, saubere Stiefel und eine kanariengelbe Jacke mit Stickereien nach der jüngsten patashoquanischen Mode. Hinter ihm folgte ein Mann mit einer Augenklappe, an der die Schwanzfedern eines scharlachroten 249
Vogels baumelten - wie als Hinweis darauf, wodurch das Auge verlorengegangen war. Auf seinen Schultern hockte eine Frau in Schwarz. Ihre Haut bestand aus silbergrauen Schuppen, und in ihren winzigen Händen hielt sie einen Stock, den sie immer wieder auf den Kopf des Mannes hämmerte, um ihn anzutreiben. Den Abschluß der Gruppe bildete eine noch seltsamere Gestalt.
»Ein Nullianac«, murmelte Pie. Gentle brauchte nicht zu fragen, ob Gefahr von diesem Wesen drohte, denn schon sein Erscheinungsbild ließ nicht den geringsten Zweifel daran, daß es Unheil brachte. Der Kopf ähnelte zwei betenden Händen, wobei die Daumen nach vorn deuteten und in hummerartigen Augen endeten. Die Lücke zwischen den beiden Händen war groß genug, um den Himmel dazwischen zu erkennen, und dort stoben Funken hin und her, bildeten gleißende Bögen aus Energie. Gentle hatte nie zuvor ein scheußlicheres lebendes Etwas gesehen. Einige Sekunden lang spielte er mit dem Gedanken, loszulaufen und zu fliehen, doch Pie blieb stehen, und er wollte nicht erneut von dem Mystif getrennt werden.
Der Lispelnde verharrte ebenfalls und richtete eine Frage an sie.
»Was führt euch nach Vanaeph?« wollte er wissen.
»Wir sind nur auf der Durchreise«, antwortete Pie. Gentle fand, daß es dieser Antwort ein wenig an Fantasie mangelte.
»Wer seid ihr?« erkundigte sich der Mann.
»Wer sind Sie?« entgegnete Gentle.
Die Gestalt mit der Augenklappe lachte schallend und bekam dafür den Stock zu spüren.
»Loitus Hammeryock«, stellte sich der Lispelnde vor.
»Ich heiße Zacharias«, sagte Gentle. »Und dies ist...«
»Casanova«, warf Pie ein, was ihm einen überraschten Blick von Gentle einbrachte.
»He, du!« keifte die Frau. »Kannest du mich verstehigen?«
»Ja«, bestätigte Zacharias. »Ich kanne dich verstehigen.«
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»Sei vorsichtig«, flüsterte ihm Pie zu.
»Gutig!« Die Sprache der Frau war eine Mischung aus Englisch, Latein und einem Dialekt, der häufiges Schnalzen mit der Zunge und lautes
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