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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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im Freien und siehst die Sterne?
    Ich blinzelte. Tatsächlich, ich hatte geblinzelt! Zum ersten Mal fühlte ich angesichts dieses Erfolges mein Herz schlagen. Der Himmel hingegen irritierte mich. Er war irgendwie seltsam, wirkte unfertig. Ich suchte den Polarstern, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, welcher es war. Bedeckte ihn eine Wolke? Nein, dort oben hingen keine Wolken. Und die Deichsel des Großen Wagens … Mein Unbehagen stieg mit jedem Atemzug, den ich himmelan starrte. Die Luft war so klar, dass die Milchstraße als leuchtendes Band zu erkennen war. Nichts trübte die Atmosphäre, kein Leuchten des Mondes überstrahlte das Funkeln der Sterne. Doch Orion, Pegasus, Großer Hund und Schwan … Sämtliche Sternbilder, die ich zu erkennen glaubte, waren verzerrt oder unvollständig. Polaris fehlte oder stand an einer Stelle, an der ich ihn nicht als solchen erkannte. Die Plejaden wirkten in die Länge gezogen, Sirius glänzte viel zu weit im Süden, Wega und Deneb standen zu nah beisammen, der Gürtel des Orion beschrieb einen Knick, und sein Nebel, dessen diffuses Leuchten ich eigentlich im Schwertgehänge des Sternbildes gewähnt hatte, schimmerte unmittelbar neben Beteigeuze. Dann überfiel mich eine viel offensichtlichere Erkenntnis: Ich blickte in einen Nachthimmel!
    Keine Mitternachtssonne – Nacht!
    Jäh musste ich an Wells’ Zeitmaschine denken. An vorüberrasende Jahrzehntausende, rasant wachsende und verwitternde Berge … Wie viel Zeit mochte vergangen sein, seit mich dieses schwarze Ding in die Tiefe gerissen hatte? Tja, Akademiker, eine bedeutsame Frage. Wie viel Zeit muss vergehen, ehe sich das Firmament so markant verändert?
    Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, mich zu bewegen; einen Muskel, einen Finger, irgendetwas. Aber es funktionierte nicht. In war in der Lage zu blinzeln und zu atmen, aber ich konnte ebenso gut ein Paar Augen, ein Gehirn und eine Lunge sein, die irgendwo auf dem nackten Boden lagen, auf abartige Weise belebt, beseelt und in mondloser Nacht erweckt. Ein perverses Experiment unter einem fremden Sternenhimmel. Eine zynische Laune des Taaloq- Wächters. Ich mochte alles und überall sein, solange ich nicht endlich einen Blick auf meinen Körper werfen konnte, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.
    Was ich jedoch sah, als ich die Augen wieder öffnete, war der Schatten.
    Wie zu einem beschwörenden Flötenspiel aufgerichtet, ragte er über mir über die Felsklippe und wiegte sich sanft hin und her wie zu einer lautlosen Melodie. Hätte er sich nicht bewegt, hätte ich ihn womöglich gar nicht bemerkt. Im ersten Moment erschien er mir wie der Stamm eines gewaltigen Baumes, an dem der Sturm zerrte. Doch außer dem Wind war weiterhin nichts zu hören; kein Knarren von Holz, kein Mahlen von Gestein unter Wurzeln. Wo der Schatten emporragte, wirkte es, als habe man einen Teil des Sternenhimmels einfach ausgelöscht. Und selbst wenn kein einziger Stern zu sehen gewesen wäre, hätte man ihn wahrgenommen, denn seine Schwärze war intensiver als die des Nachthimmels.
    Je länger ich den Schatten betrachtete, desto deutlicher glaubte ich in ihm den Leib eines riesigen Wurmes oder einer gigantischen Schnecke zu erkennen. Sein Haupt glich einem fünfzackigen Stern, doch ich konnte nicht erkennen, ob es die natürliche Form seines Kopfes oder sein geöffnetes Maul war.
    Für kurze Zeit versuchte mich mein Verstand davon zu überzeugen, dass das, was ich auf der Klippe sah, kein Monsterwurm oder eine riesige Molluske war, sondern der hoch aufgerichtete Hals eines Therapoden; eines Pterosaurus oder ein Diplodocus. Zweifellos war es der Wunsch, der Situation noch einen Rest Rationalität abzugewinnen. Träfe das zu, hätte es mich über 150 Millionen Jahre in die Vergangenheit verschlagen haben müssen – ins Zeitalter des Jura. Aber welcher Saurier hatte ein Maul mit fünf Kiefern besessen …?
    Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob das, was ich zu sehen glaubte, real war, oder ich mir den Schatten nur einbildete. Er bewegte sich so lautlos und elegisch über mir, dass er mir wie eine weitere Traumvision vorkam. Die Kreatur unternahm keinerlei Anstalten, sich zu nähern oder ihr eigenartiges Verhalten zu ändern, und das Grauen, das ich anfangs bei ihrem Anblick empfunden hatte, wandelte sich langsam zu gespanntem Lauern.
    Offenbar war sich das Geschöpf gar nicht bewusst, dass ich nur wenige Meter unter ihm wie auf dem Präsentierteller lag. Oder es fand mich

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