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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Fumarole, doch ich weigerte mich zu glauben, dass die Substanz allein wegen des anbrechenden Tages zu zerfallen begann wie ein Vampir im Sonnenlicht. Es musste sich um eine fotoreaktive organische Substanz handeln, nicht um den erstarrten Speichel eines Höllenwurms. Es musste …
    Mit zunehmender Helligkeit begann sich die Masse immer explosionsartiger zu zersetzen. Dabei verdampfte sie zu dickem, ätzend riechendem Rauch, der mir fast den Atem raubte. Ich war dankbar dafür, dass die Berge in Wolken gehüllt waren und der Nebel das Sonnenlicht filterte. Falls die Strahlen der Sonne direkt auf meine Umgebung getroffen wären, hätte der Boden sich womöglich in einer riesigen Stichflamme aufgelöst und mich dabei geröstet. Die weiße Substanz wurde zunehmend heißer, doch sie verrauchte, ehe sie meine Haut ernsthaft verbrennen konnte. Hustend und mit zusammengepressten Zähnen harrte ich aus, bis das Inferno um mich herum abgeklungen war. Danach blieb ich – am ganzen Körper zitternd – liegen und konnte kaum glauben, noch am Leben zu sein. Ich starrte in die Wolken, bis ich den fahlen Schein der am Horizont auftauchenden Sonne sah, ehe ich vorsichtig eine Hand zur Faust ballte und sie vor meine Augen hob.
    Lange blickte ich auf meine Hand. Sie war weder von Brandblasen übersät noch gerötet. Ich öffnete die Faust, betrachtete meine Finger. Dann richtete ich mich langsam auf und schaute mich um: Die weiße Substanz hatte sich nahezu restlos aufgelöst. Nur hier und dort dampfte es noch unheilvoll aus Ritzen und Spalten. Ich fühlte keinerlei Schmerzen und entdeckte auch keine Verletzungen an mir.
    Was ich von meiner Umgebung erkannte, war trostlos und beklemmend. Ich kauerte auf einem breiten Felssims von kaum dreißig Quadratmetern Fläche. Die vor mir aufragende Felswand verschwamm nach wenigen Metern im dichten Nebel, hinter mir lag ein bodenloser, wolkenerfüllter Abgrund. Vorsichtig kroch ich vor zur Klippe und ließ einen aufgelesenen Stein in die Tiefe fallen. Sekundenlang war nichts zu hören, dann schlug der Stein auf, dreimal, viermal, ehe wieder Stille einkehrte. Mindestens zweihundert Meter musste es senkrecht bergab gehen, schätzte ich. Zu versuchen, hier hinabzuklettern, war Selbstmord. Folglich blieb mir nur der Weg nach oben. Ich spähte hinauf zum Sims, hinter dem der Wurm gethront hatte. War der Schatten nur ein Traum gewesen?
    Lange suchte ich eine Möglichkeit, die acht oder neun Meter hohe Klippe zu bezwingen. Schließlich entschloss ich mich, barfuß hinaufzuklettern. Meine immer noch zitternden Muskeln und die Ungewissheit, was mich jenseits der Klippe erwarten mochte, waren mir dabei nicht gerade dienlich. Immer wieder rutschte ich aus und wäre sogar fast abgestürzt, ehe ich mich mit letzter Kraft über die Kante zog und erschöpft auf dem Hochplateau, das ich erreicht haben musste, liegen blieb. Ich lauschte nach verdächtigen Geräuschen; dem Schaben gewaltiger, beinloser Körper über Fels, wütendem Schnauben oder sich nähernden Schritten. Aber kein Laut drang an meine Ohren. Ich hörte wiederum nur den Wind.
    Hastig schlüpfte ich wieder in meine Stiefel und sah mich unschlüssig um. Linker Hand türmten sich nach etwa fünfzig Metern abschüssigem Boden zerklüftete Felsen auf, und auch vor mir bildete eine nur noch als verschwommener Schemen erkennbare Bergflanke ein scheinbar unüberwindliches Hindernis in der Ferne. In meinem Rücken gähnte der bezwungene Abgrund, rechter Hand stieg das Gelände sanft an.
    Mir graute davor, in die Richtung zu laufen, in der der Schattenwurm verschwunden war. Daher orientierte ich mich zuerst weiter bergauf, wobei ich mich bemühte, auf dem Geröll so lautlos wie möglich aufzutreten. Mehrere hundert Meter legte ich schleichend zurück, ständig darauf bedacht, den Boden vor und neben mir im Auge zu behalten, um ein unnötiges Lostreten von Gestein oder einen Sturz zu vermeiden. Wenn ich stehen blieb, um meinen Atem zu beruhigen, warf ich furchtsame Blicke zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war, und suchte im Nebel eine Form, die wie ein riesiger Wurm mit tentakelbewehrtem Kopf aussah.
    Ab und an vernahm ich Geräusche, die sich wie fliehende Hufe auf nacktem Fels anhörten. Schreckte ich jedoch herum, um den Verursacher zu erspähen, blickte ich nur in grauweißes, bewegungsloses Allerlei. Es ist nur ein verirrtes Rentier, versuchte ich mich zu beruhigen. Und eine andere Stimme fragte: Wie hoch ins Gebirge steigen Rentiere?

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