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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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schlicht und einfach uninteressant. Diplodoctien waren Pflanzenfresser, fiel mir ein. Zumindest die meisten von ihnen … Aber welche Therapoden hatten sich so hoch oben im Gebirge aufgehalten?
    Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, nahm die Kreatur mich nicht wahr, solange ich mich nicht bewegte. Mit etwas Glück wirkte ich auf sie wie ein Teil der Felsen. Ich wusste nicht, wie gut Würmer sehen können; schon gar nicht Exemplare dieser Größenordnung. Einige meeresbewohnende Polychaeten besitzen hochentwickelte Augen. War dieses Ungeheuer auf der Klippe fähig, hell und dunkel zu unterscheiden und Bewegungen zu erkennen? Und selbst wenn es blind war – konnte es mich dann nicht womöglich riechen? Oder meinen Pulsschlag oder meine Körperwärme wahrnehmen? Und warum vollführte es diese seltsamen Bewegungen?
    Während der folgenden Stunden verlor ich allmählich meine Angst vor dem Schatten. Der Anblick der Kreatur war furchterregend, aber ihr Verhalten wirkte nicht unbedingt bedrohlich, und das Bewusstsein, noch immer am Leben zu sein, ließ mich hoffen, diese Nacht zu überstehen.
    Diese Nacht?, höhnte die Stimme. Du Traumtänzer, diese Nacht kann Monate dauern …
    Irgendwann wagte ich es, meinen Blick von dem Schatten abzuwenden und den Himmel zu betrachten. Die Anwesenheit der Kreatur ließ mich von Neuem zweifeln, dass ich mich tatsächlich noch auf der Erde befand. Ob in Vergangenheit oder Zukunft, die irdischen Bedingungen sind nicht geeignet, Protostomien und Mollusken dieser Größenordnung hervorzubringen. Es sei denn … Mein Blick verweilte wieder auf dem Schatten. Es sei denn, diese Kreatur entstammte einer anderen Welt.
    Sie weiß ganz genau, dass du hier unten liegst, flüsterte die Stimme. Sie ist nur wegen dir hier …
     
    Als der Morgen graute, geschah etwas Seltsames: Noch ehe es hell genug geworden war, um die Kreatur deutlicher zu erkennen, zog diese sich ebenso lautlos zurück, wie sie aufgetaucht war. Der fünfzackige Stern an ihrem Haupt schloss sich und verlieh ihr mehr als zuvor das Aussehen eines riesigen Wurmes. Während ich dem Anbruch des Tages mit Erleichterung und Zuversicht entgegenfieberte, glitt der Schatten rückwärts aus meinem Sichtfeld. Weder das Gleiten eines Körpers über Fels und Geröll noch irgendein anderes Geräusch drangen an meine Ohren. Es war, als schleiche sich ein schwarzes Phantom davon. Ich beobachtete den Felssims in der Erwartung, die Kreatur würde noch einmal zurückkehren, aber über mir rührte sich nichts mehr. Offenbar hatte ich es mit einem Geschöpf zu tun, das eine natürliche Scheu vor Tageslicht besaß. Ein weiteres Mysterium.
    Mit dem Morgengrauen kam auch der Nebel. Innerhalb weniger Augenblicke war ich in so dichte Wolken gehüllt, dass ich den kaum zehn Meter über mir liegenden Felssims nicht mehr erkennen konnte. Dafür sah ich, wenn ich die Augen extrem verdrehte und zur Seite blickte, zum ersten Mal den Grund dafür, warum ich nicht in der Lage war, mich zu bewegen: Mein Körper war fast vollständig von einer weißlichen Kruste bedeckt, die aussah wie erstarrter Zuckerguss. Lediglich mein Gesicht und mein Brustkorb ragten daraus hervor und ermöglichten es mir zumindest, zu atmen.
    Weiterzuleben, präzisierte die geistige Stimme. Du bist nur an Fressvorrat, liegst hier in Wurms Speisekammer. Womöglich steht er nicht auf Aas. Dein Brustkorb ist prädestiniert für seinen Biss. Dann lutscht er dir die Eingeweide heraus, und zum Nachtisch dein Gehirn …
    Mich umgab plötzlich ein leises Zischen, das klang, als entweiche irgendwo Luft. Ich versuchte, die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren, doch es schien von überall her zu kommen. Zuerst bildete ich mir ein, dass es sich um Tiere handelte, die sich aus allen Richtungen langsam an mich heranschlichen. Als das Zischen intensiver wurde und sich gleichzeitig ein unangenehmes Brennen auf meiner Haut ausbreitete, wurde mir schlagartig bewusst, dass das Geräusch von der fermentierten Masse ausging. Sie hatte begonnen, sich zu erhitzen und löste sich blasenschlagend auf. In einem Anfall von Panik versuchte ich erneut, mich aus meinem Panzer zu befreien. Ich hätte ebenso gut versuchen können, aus einem Betonblock auszubrechen. Die Vorstellung, binnen kurzem bei lebendigem Leib gekocht zu werden, trieb mich fast in den Wahnsinn.
    Ich wusste nicht, ob der Nebel oder das Tageslicht für die exotherme Reaktion der weißen Masse verantwortlich war. Der Boden um mich herum dampfte wie eine

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