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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Auftreten Gerölllawinen oder Felsbrocken, wodurch der Hang stellenweise instabil wurde und die Gefahr bestand, dass auch über mir Gestein zu rutschen begann. Meine Beine schmerzten inzwischen vom Abstieg, jedes Auftreten jagte einen Stich durch meine Kniegelenke. Immer öfter musste ich pausieren, bis der Schmerz nachließ, um anschließend wieder ein paar Dutzend Meter talwärts zu klettern. Irgendwann wurde das Geröllfeld ebener und ging schließlich in weichen Tundraboden über. Meine Hoffnung, ich hätte endlich den Talgrund erreicht, war aber nur von kurzer Dauer. Der Nebel war in dieser Höhe nicht mehr so dicht wie im Gipfelbereich, und so erkannte ich, dass ich nur eine weitere Hochfläche erreicht hatte. Jenseits von ihr ging es weiter bergab. Ehe ich mich versah, stand ich bis zu den Knöcheln im Wasser eines zweiten Sees.
    Am gegenüberliegenden Ufer streunte ein Polarfuchs entlang und warf mir hin und wieder einen nervösen Blick zu. Ich beobachtete ihn, bis er hinter Felsen im Nebel verschwunden war. Als ich um den halben See gewatet war, stieß ich auf einen seltsamen Abdruck im Uferschlamm. Zuerst hielt ich ihn für eine Hufspur, die ein durstiges Tier beim Trinken in den Boden gescharrt hatte, bis ich weitere dieser Abdrücke entdeckte.
    Ich weiß nicht, ob ich sie Fußabdrücke nennen darf, denn dazu waren sie zu eigenartig geformt, geradezu furchteinflößend. Manchmal ist es nicht von Vorteil, über eine zu bildhafte Fantasie zu verfügen. Ich ging langsam weiter und entdeckte bald Hunderte dieser bizarren Abdrücke, woraufhin ich fieberhaft nachdachte, was für eine Art von Tier solche Spuren zu hinterlassen vermochte. Und erneut fragte ich mich: Wo hatte es mich hinverschlagen? Der Polarfuchs – war es wirklich ein Fuchs gewesen, verdammt? – sprach für Mutter Erde, der Schatten des riesigen Wurmes dagegen.
    Befand ich mich in der Vergangenheit? Nein, ausgeschlossen, das wäre zu absurd. Zeitreise! Ich lachte leicht hysterisch auf. Science-Fiction! Noch nie hatte ich davon gehört, dass einst riesige Würmer auf der Erde lebten. Der megascolides australis ist wohl die gegenwärtige Ausnahme. Aber bei allem Respekt, er bleibt ein Regenwurm, mehr nicht.
    Wenn nicht die Vergangenheit, dann also eine ferne Zukunft?
    Ich betrachtete die Abdrücke im Schlamm. Was für eine Zukunft, Akademiker? Eine voller Mutationen und Rieseninsekten? Ironischerweise musste ich an die Aufschrift der Hinweisschilder im Daneborg-Nationalpark denken: Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.
    Eine gute Freundin und Paläobiologin hatte vor Jahren am Institut Diavorträge gehalten, die ich sporadisch besucht hatte. Ihr Fachgebiet war die Fauna der Ur- und Vorzeit und damit auch das Erkennen und Zuordnen fossiler Spuren. Sie hatte jedoch nicht nur über versteinerte Abdrücke von Dinosauriern, Riesenlurchen und Ur-Säugern referiert, sondern auch Vergleiche zu heute lebenden Tierarten – vornehmlich Reptilien, Vögeln und Insekten – gezogen. Die Spuren, die den Uferschlamm ringsum bedeckten, ähnelten denen einer Kreuzung der letzten beiden Arten: Kaum größer als meine Stiefelabdrücke, besaßen sie in der Mitte eine ballenartige Vertiefung, von der gezahnte, einander gegenüberliegende Scherenpaare ausgingen. Beim Anblick dieser Klauenabdrücke erinnerte ich mich an einen Horror-Streifen aus den fünfziger Jahren, bei dem ich mich als Kind vor dem Fernseher gegruselt hatte: Formicula.
    Beklommen revidierte ich meine anfängliche Sorge und fragte mich statt dessen: Wie hoch ins Gebirge krabbeln Riesenameisen?
     
    Als ich weiter bergab humpelte, ertappte ich mich dabei, die vernebelte Umgebung immer argwöhnischer nach Bewegungen und verdächtigen Formen abzusuchen, jedes Geräusch überzuinterpretieren, bei jedem Vogelpfeifen zusammenzuschrecken und mich verfolgt, beobachtet und belauert zu fühlen. Als sich der Nebel endlich lichtete und als trübe Dunstdecke über mir zurückblieb, atmete ich erleichtert auf.
    Die Landschaft, die sich nun offenbarte, ließ meinen Atem jäh wieder stocken: Dreihundert Meter unter mir erstreckte sich das breite, grün blühende Urstromtal eines Gletschers. Kesselseen, Drumlins, Findlinge und Schuttkegel bedeckten den Talgrund, durchschnitten vom Wall einer Grundmoräne und einem schmalen Flusslauf. Nirgendwo war ein Anzeichen menschlichen Lebens auszumachen, ebenso wenig entdeckte ich größere Tiere. Auf den ersten Blick wirkte das Tal völlig unberührt und

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