Imagon
mir plötzlich wieder in den Sinn. War er eine Vision meiner Zukunft gewesen?
Ich schüttelte den Kopf. Falls ich tatsächlich in eine ferne Vergangenheit verschlagen worden war, konnte ich nicht sicher sein, ob dieses Land – falls es sich um Grönland handelte – bereits von Menschen bevölkert war. Der Schatten des lichtscheuen Riesenwurmes und die Klauenspuren am Ufer des Bergsees legten jedenfalls die Vermutung nahe, dass ich mich sehr weit von meiner eigenen Zeit entfernt hatte. Besäße ich doch nur ein Fernglas, um den Himmel intensiver zu betrachten … Alle bekannten Sternbilder der nördlichen Hemisphäre waren vorhanden. Dass ihre Konstellation verzerrt war und sie anders aussahen, als ich sie kannte, ließ lediglich darauf schließen, dass sich die Sterne im Laufe der Jahrtausende weiterbewegt oder noch nicht die Position erreicht hatten, unter der sie auf den modernen Sternenkarten dargestellt werden. Angesichts der Lebensspanne eines Menschen bleibt ein Fixstern ein Fixstern, doch über Jahrtausende gesehen besitzt dieser Begriff keine Bedeutung. Leider reichten meine astronomischen Kenntnisse nicht, um sagen zu können, welcher Stern seine Position in welcher Weise am Firmament ändert.
Aber mit einem Fernrohr … Ein einziger Blick auf den Krebsnebel, und ich wüsste zumindest, ob ich mich in der Vergangenheit oder Zukunft aufhielt. Die Möglichkeit, dass die Sternbilder nur deshalb so verzerrt wirkten, weil ich sie von einem anderen Planeten aus betrachtete, stellte ich ganz hinten an. Aber zugegeben: Ich spielte mit ihr. Wobei mir die Stiche der Blackflies und Moskitos regelmäßig die Gewissheit gaben: Dies kann nur die Erde sein.
Der Krebsnebel entstand rund eintausend Jahre nach unserer Zeitrechnung durch die Explosion einer Supernova. Er war jünger als Karl der Große oder Leif Erikson. Da ich mich – hoffentlich – noch immer auf der Ostseite Grönlands befand, wanderte ich durch ein Tal, dass in meiner Zeit von einem mächtigen Gletscher oder bereits vom Eisschild bedeckt war. Um in der Arktis derartige Eismassen zu schmelzen, waren unter normalen Umständen mehr als eintausend Jahre nötig. Ich müsste also nur den Nachthimmel studieren und den Krebsnebel suchen. Fehlte er, befand ich mich in der Vergangenheit. Hatte er sich ausgedehnt, befand ich mich in der Zukunft. Wäre ersteres der Fall, könnte ich meine Vorgehensweise anhand der Geschichte koordinieren. In letzterem Fall jedoch …
Der Gletscherbach war an der Stelle, an der ich ihn erreichte, kaum mehr als fünf Meter breit, und sein Wasser, wie ich erwartet hatte, eiskalt. Die Vorstellung, auch nur meine Hände darin zu waschen, entlockte mir einen Fluch nach dem anderen. Obwohl ich überzeugt davon war, der einzige Mensch weit und breit zu sein, zögerte ich, ehe ich mich langsam entkleidete. Dabei sah ich mich immer wieder suchend um, ob nicht doch irgendwo irgendjemand versteckt lag und mich beobachtete. Nicht, dass ich mich ob meiner Blöße genierte, doch ich fühlte mich noch schutzloser als zuvor.
Meine klammen, durchschwitzten Sachen legte ich über Felsen oder hängte sie an die Zweige eines nahen Wachholdergebüschs, um sie trocknen zu lassen. Kein einziger Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die Wolken. Grau und schwer hing der Nebel über dem Tal, und ich schätzte, dass es Stunden dauern würde, ehe zumindest meine Hosen, der Pullover und die Jacke wieder tragbar waren. Zudem kam es mir vor, als ob es bereits wieder dunkel werde. Doch das konnte auch am Nebel liegen.
Zitternd hockte ich schließlich in der Mitte des Flusses auf einem Stein und verfluchte die allgegenwärtige Kälte. Mich in die eisigen, reißenden Fluten zu legen und in Inuit-Manier zu baden, hatte ich verworfen, nachdem ich wenige Meter durchs Wasser gewatet war. Meine Füße hatten sich danach angefühlt wie Igluziegel. So riss ich eine Handvoll Algen vom Grund des Baches und wusch meinen Körper damit ab. Mein rechtes Knie war blau geschwollen und blutverkrustet, aber die Wunde selbst schien harmlos.
Einen Vorteil besaß der Platz, an dem ich saß: Ich hatte am Wildwasser meine Ruhe vor den Mücken. Allerdings spürte ich jetzt, da ich pausierte, die Schmerzen meiner Muskeln, Sehnen und Gelenke. Ich war müde, durchfroren und frustriert. Mein hoffnungsvoller Blick auf die Armbanduhr wurde enttäuscht. Weiterhin keine Anzeige, das LED-Display war grau.
Bis zumindest Socken und Unterwäsche halbwegs trocken waren, wanderte ich – auf
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