Imagon
den glatten Steinen balancierend – in der Mitte des Flusses ein paar hundert Meter weit auf und ab und entdeckte neben einem dichten Wachholdergesträuch einen geeigneten Platz zum Übernachten. Es war ein in Fließrichtung des einstigen Gletschers glattgeschliffener Gesteinshöcker, der an seiner flussab gelegenen Seite abbrach und dabei einen Überhang bildete, der wie ein natürliches Dach wirkte. Hinzu kam, dass die Steilseite leicht ausgehöhlt war. Der Unterschlupf wurde regelmäßig von Tieren besucht, wie Kot- und Fellreste auf dem Boden und an den Zweigen bewiesen.
Inzwischen hatte ich erkannt, dass die aufkommende Dunkelheit nicht von den dichter werdenden Wolken herrührte, sondern tatsächlich von der Abenddämmerung. Ich konnte nicht genau sagen, wie lange ich gebraucht hatte, um vom Ort meines Erwachens bis hierher zu gelangen, aber kaum mehr als acht Stunden konnten es nicht gewesen sein.
Der Tag war kurz, überlegte ich. Viel zu kurz. Er roch nach Winter …
Ehe es völlig dunkel geworden war, hatte ich meine teils immer noch klammen Sachen wieder angezogen, kauerte neben meinem Schlaflager mehrere Stunden lang grübelnd vor einem bescheidenen Lagerfeuer und röstete Rotkappen. Mit Sorge hatte ich nach dem Entzünden des Feuers festgestellt, dass mein Feuerzeug nur noch zur Hälfte mit Flüssiggas gefüllt war. Ich wünschte mir eine Zigarette, doch meine letzte hatte ich bereits vor Stunden geraucht und das Papier der Packung als Fidibus benutzt. Es gab nicht viel Holz, daher fütterte ich die Flammen hin und wieder mit Wacholderzweigen oder trockenem Schwemmholz, das ich im Halbdunkel zusammengesammelt hatte. Ich musste erneut an die Klauenspuren am Ufer des Bergsees denken, und von diesem Moment an gingen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwann ließ ich das Feuer schließlich verlöschen, starrte noch eine Weile in die schwächer werdende Glut und verkroch mich unter den Felsen.
Hoffentlich schreckte mein fremdartiger Geruch den derzeitigen Schlafgänger ab. Ich verspürte keine Lust, in der Nacht von einem Polarwolf geweckt zu werden. Zur Sicherheit suchte ich am Ufer einen stabilen Ast, mit dem ich zur Not um mich schlagen konnte. Die Kapuze über dem Kopf und den feuchten Stock in der Rechten, kauerte ich mich zwischen Felswand und Buschwerk zusammen.
Schlaf fand ich in dieser Nacht wenig. Zum einen wurde es empfindlich kühl, zum anderen glaubte ich ständig Geräusche in meiner Nähe zu hören. Sogar Stimmen. Dann lauschte ich eine Weile dem Rauschen des Wassers und versuchte mir einzureden, es sei der Fluss, der mich narrte. Die Mückenstiche in meinem Gesicht und an meinen Händen juckten fürchterlich. Irgendwann wurde es so kalt, dass ich mir einen Wolf an meine Seite wünschte, um mich an ihm zu wärmen.
Am schlimmsten jedoch war, dass jetzt, als ich Ruhe zu finden versuchte und die Dunkelheit jegliche Ablenkung unterband, mir meine Situation in aller Klarheit bewusst wurde – ich fand mich in eine fremde, archaische Welt verschlagen, nahezu wehrlos und ohne den leisesten Hauch einer Ahnung, wie ich je wieder in meine Zeit zurückfinden sollte. Kein Polster für gute Träume.
Irgendwann siegte die Erschöpfung über die Kälte und die Verzweiflung. Die Nacht war lang. Weitaus länger als der Tag …
Als ich kurz vor Sonnenaufgang erwachte, fühlte ich mich, als habe man mein Blut durch Formalin ersetzt. Ich war steif vor Kälte, meine Kleidung war immer noch klamm, und jeder einzelne Knochen tat mir weh. Zudem stank ich nach Tierkot.
Ehe ich mich über die widrigen Umstände ärgern konnte, vernahm ich ein Geräusch, das mich augenblicklich bis unter die Haarspitzen elektrisierte. Gebannt lauschte ich, ob mir der geräuschvolle Fluss nicht schon wieder einen Streich gespielt hatte, doch ein Irrtum war ausgeschlossen: Irgendwo in unmittelbarer Nähe schlug etwas oder jemand mit beständiger Regelmäßigkeit zwei Steine gegeneinander. Ich hörte ein trockenes Klack-klack-klack, dann herrschte für kurze Zeit Stille, ehe das Rauschen des Wassers erneut von dem Geräusch übertönt wurde.
Als ich schlotternd die Knie an meinen Körper zog und mich aufrichtete, explodierte der Wacholderbusch. Ein Schwarm Vögel stob gen Himmel auf, und ein Hase floh in panischer Hast aus dem Unterholz. Erde spritzte mir ins Gesicht, Blätter und Federn regneten auf mich herab. Mein Herz raste wie ein Dampfhammer; ich war wach.
Vorsichtig spähte ich an den Felsen vorbei, um zu sehen,
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