Imagon
groß, doch in Wirklichkeit … Meine Puls raste, als ich den Krater anhand der Kilometerskala am linken Bildrand abzuschätzen versuchte.
»Ist er das?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte.
»Der Impakt«, bestätigten Broberg und Chapmann nahezu synchron. »Auf den Bildern, die Sie kennen, von besagter Wolke bedeckt«, setzte der Amerikaner hinzu.
»Er muss einen Durchmesser von über fünf Kilometern besitzen!«
»6340 Meter«, präzisierte Chapmann.
Ich überschlug in Gedanken Masse und Geschwindigkeit des Körpers, der eine solche Wunde ins Eis geschlagen haben konnte, und kalkulierte daraus die wahrscheinlichen Konsequenzen für das Umland. »Das kann nicht sein«, brachte ich schließlich heraus. »Das ist unmöglich! Völlig paradox! Kein Impakt im Eis würde so aussehen. Es gibt überhaupt keinen …«
»Kraterwall?«, vollendete Broberg und nickte langsam. »Nein, Poul. Und das ist längst nicht alles. Aus diesen Gründen haben wir auch beschlossen, ein wenig … hm, Diskretion gegenüber der Öffentlichkeit zu üben. Bitte fahren Sie fort«, bat er Mertens.
»Vom über 1700 Meter hohen Mount Breva erhob sich vor dem Einschlag lediglich der Gipfel über die Eisdecke. Man nennt einen solchen über das Inlandeis ragenden Berggipfel Nunataker. Die USA ersuchten die dänische Regierung um eine Beteiligung an der Untersuchung des Einschlagskraters. Im gleichen Atemzug wurden das Niels-Bohr-Institut und das AMES Space Center sowie das Team um Professor DeFries mit der Errichtung einer Forschungsstation beauftragt.
Während der letzten Wochen wurden uns von der Breva-Station Dutzende digitaler Aufnahmen der Einschlagstelle übermittelt, von denen wir Ihnen heute eine große Anzahl erstmalig zeigen werden. Das eigentlich Außergewöhnliche ist allerdings nicht der über sechs Kilometer große Krater und sein fehlender Wall, sondern etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Ich möchte einführend ein paar Zeilen aus der Email-Korrespondenz zwischen Dr. Jorgensen und dem Institut vortragen und Herrn Professor Broberg bitten, anschließend die Serie von Aufnahmen vorzuführen.«
Mertens zog einen Brief aus seiner Mappe, sah die Anwesenden nacheinander an und las: »… was diesen Krater auch geschaffen haben mag, es hat an der Südflanke des Mount Breva das Dach einer Gebäudeanlage freigeschmolzen, deren Alter und Herkunft wir im ersten Erregungsschwindel noch gar nicht zu schätzen wagen. Sollte unsere Vermutung zutreffen, müsste die Geschichte dieses Landes neu geschrieben und um eine Kultur ergänzt werden, deren Wurzeln womöglich bis ins Atlantikum zurückreichen. Wir können durch das Eis erkennen, dass die Konstruktion in die Tiefe weiterführt, aber wie tief und wie gewaltig sie ist, lässt sich nicht abschätzen. Bisher sind keine Zugänge wie Fenster oder Türen auszumachen. Der Komplex muss einst in enormer Höhe entlang der Felswand angelegt worden sein, zu einer Zeit, als die Inlandeiskappe viel weiter im Landesinneren begann und die Küste bis auf etwa achtzig Kilometer eisfrei war. In dieser Wärmeperiode, dem sogenannten Atlantikum, herrschten selbst in Grönland sehr milde klimatische Bedingungen, vergleichbar mit den heutigen Alpenregionen oberhalb der Baumgrenze. Sogar Ackerbau wäre möglich gewesen.«
Ich verschränkte die Arme, um meine zitternden Hände zu verbergen. Die letzten Sätze hatte ich schon einmal gehört; aus Naunas Mund.
»Den einzigen Vergleich für eine solche Art von Felsbehausungen oder -gräbern«, fuhr Mertens fort, »findet man bei den Cliff Dwellings der Anasazi-Indianer in den Felswänden der Hochebene von Mesa Verde, einem Plateau zwischen Colorado und Arizona, das sich nahezu lotrecht fast 600 Meter hoch erhebt. Die vier bis fünf Meter hohen Mauern des sogenannten Sonnentempels bestehen aus fein zurechtgeschlagenem, an den Rändern sogar poliertem Sandstein. Aber nicht eine Tür, nicht ein Fenster, nicht einmal ein Belüftungsschlitz durchbricht die Wände dieser in dreihundert Metern Höhe gelegenen Anlage.
Ob der hier am Mount Breva freigelegte Komplex eine Siedlung, ein sakrales Bauwerk oder eine Grabanlage darstellt, oder ob sie einst einem gänzlich anderen Zweck diente, bleibt vorerst ein Rätsel. Gewaltsam möchten wir uns nicht Zugang verschaffen, sondern hoffen, in größerer Tiefe auf einen Eingang zu stoßen. Wir warten auf eine Heißwasser-Hochdruckpumpe aus Scoresby, die in den nächsten Tagen hier eintreffen wird.«
Mertens
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