Imagon
dass Sie die Wahrheit erfahren. Oder einen Aspekt der Wahrheit. Dieser Vorfall in Grönland erweckt eher den Anschein, als habe da unten für drei Minuten eine gigantische Magnesiumfackel gestrahlt …«
»Drei Minuten?«, echote ich.
»Als das Licht erlosch, war der Krater da. Keine Glutspur in der Atmosphäre, keine nennenswerte Umwandlung von kinetischer Energie in thermische. Jede Smogglocke über Moskau ist dichter als die Dampfwolke, die kurzzeitig über den Scoresbysund gezogen ist.«
»Drei Minuten?«
Die Frau hob amüsiert ihre dichten Augenbrauen. »Broberg hat die Videoaufnahme im Zeitraffer abgespielt.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Sie lächelte schief. »Gilt der Slogan: Wir sind gut?!«
Ich verzog das Gesicht.
»Wissen Sie, was das Interessante daran war? Die Erdbebenwarten registrierten das von Mertens so schön formulierte seismologische Ereignis erst nach diesem Lichtphänomen – knapp anderthalb Minuten, nachdem das Leuchten erloschen und der Krater sichtbar geworden war.« Sie pendelte leicht mit ihrem Kopf hin und her, eine unbewusste Bewegung, anscheinend ausgelöst von ihrem Triumph über mein Staunen.
»Das ist doch absurd«, erwiderte ich nach sekundenlanger Sprachlosigkeit.
»Ein kurzer Erdstoß der Stärke 3.8 …«, fuhr sie unbeeindruckt fort. Ich starrte nur auf ihre Lippen, beobachtete wie gebannt ihren Worte formenden Mund. »… fast so, als sei ein sehr großer und sehr schwerer Körper auf den Grund des Schmelzwassersees gesunken und auf dem Felsgrund aufgeschlagen …«
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte ich.
Die Orgariowa sah mich für einen Augenblick verdutzt an, dann schlich sich das spöttische Lächeln zurück auf ihre Lippen. Sie schaute durch das Fenster hinunter in den Park, wo Broberg, Mertens, Chapmann und Richards sich unterhielten.
»Sie besitzen doch einen Doktortitel, Poul.«
»Bitte? Sicher.« Die Gedankensprünge dieser Frau brachten mich auf die Palme. Sie blickte weiterhin an mir vorbei aus dem Fenster, wobei sie rauchte und die Asche in einen der zahlreichen Blumentöpfe schnippte.
»Na, dann sollten Sie über Kliententrennung Bescheid wissen.« Ihr Zigarettenstummel verschwand von ihrem Zeigefinger getrieben in der Blumenerde. Sie wandte sich mir zu und strich mit ihrem Handrücken kurz über meine Brust, als wolle sie ein paar Krümel wegwischen. »Plusquamperfekt. Ihr Wort?«
»Wie? … Natürlich.« Ich atmete den flüchtigen Duft ihres Parfums. »Habe kein Wort von dem verstanden, was Sie mir erzählt haben. Kann mich an nichts erinnern.«
»Sie gefallen mir. Kenne ich Sie?« Und schon war sie fort, auf dem Weg zu den Damentoiletten.
»… wegen der Nuklearwaffen-Vorwürfe eine Nachrichtensperre verhängt, um Panik zu vermeiden«, sagte Broberg zu Rosenstein und Patel, als ich das Gebäude verlassen hatte und mich zu der mittlerweile angewachsenen Gesprächsgruppe im Universitätspark gesellte. Außer der Russin und Olsen, der in einiger Entfernung auf einer Bank saß und telefonierte, hatten alle neben einem großen, stillgelegten Springbrunnen eine Diskussionsrunde gebildet, deren Mittelpunkt zweifellos Broberg war. Selbst die steinernen Figuren in der Brunnenmitte schienen seinen Worten interessiert zu lauschen. Von dem schweigsamen Nadelstreifen-Träger, der im Konferenzraum noch dabei gewesen war, fehlte jede Spur. Vielleicht saß er mit einem Richtmikrofon in irgendeinem Gebüsch …
Chapmann und Mertens sahen kurz zu mir herüber, als ich mich näherte, und nickten, als hätten sie mich erwartet. Falls Broberg, der mit dem Rücken zu mir stand und sich mit dem Deutschen und dem Kanadier unterhielt, mich ebenfalls bemerkt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Sämtliche seismologischen Einrichtungen«, fuhr er an Patel gewandt fort, »wurden angewiesen, Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren. Alle Nationen, die Beobachtungssatelliten im Orbit haben, wurden ebenfalls benachrichtigt. Nach der Entdeckung des Bauwerkes wurde die Nachrichtensperre verlängert, um die Presse oder gar Sensationstouristen fern zu halten. Die Umstände, die zu dem Ereignis führten, sind weiterhin ungeklärt.«
Mertens nippte mechanisch an seinem Kaffee, wobei er Broberg ansah, als erwarte er noch einen Nachtrag. Der Professor schüttelte unmerklich den Kopf. Mertens zeigte keine Reaktion.
»Haben Sie eine Vermutung?«, fragte ich Broberg.
»Eine Vermutung, ja, aber keine Beweise.« Alle bis auf Mertens, der etwas
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