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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Rijnhard und den anderen schienen sich wie Diamantbohrer durch meinen Hinterkopf zu arbeiten. Man konnte den Schnee vor dem Fenster fallen hören.
    »Das ist eine merkwürdige Geschichte«, meinte Hansen. »Aber wieso wollen Sie das wissen? Sie sagten vorhin, es sei etwas Persönliches.«
    »Es ist etwas Persönliches«, versicherte ich. »Und ich hatte Sie um etwas gebeten …«
    Aus dem Lautsprecher drang ein Geräusch, als ob Hansen irgendein Getränk mit hastigen Schlucken in sich hineinkippte. Ich hörte ihn aufstoßen, dann sagte er: »Na schön.« Er schien sich innerlich sammeln und die Vergangenheit in sein Gedächtnis zurückrufen zu müssen, ehe er mit schleppender Stimme zu erzählen begann.
    »Als Nauna von Ruono ins Dorf gebracht wurde, sprach sie einen völlig unbekannten Inuit-Dialekt. Dass sie schwanger war, wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal sie selbst. Innerhalb von zwei Monaten wurde ihr Bauch jedoch auffallend dicker. Es ging viel zu rasch, wie auch der Arzt fand, der sie damals untersuchte. Nach drei Monaten war ihr Bauch bereits so angeschwollen, wie es bei einer normalen Schwangerschaft erst im achten Monat der Fall ist. Das Dorf redete über sie, was Nauna ziemlich zusetzte. Ich flog sie damals nach Tasiilaq. Dort gibt es ein modernes Krankenhaus mit Röntgenräumen und Ultraschallgeräten. Sie flog allein mit, da ihre Pflegefamilie nicht genug Geld hatte, um sie zu begleiten. Krankentransporte werden hingegen von der Regierung bezahlt. Der Flug ängstigte Nauna beinahe zu Tode. Eine ganze Menge von Dingen machten ihr anfangs Angst; Helikopter, Autos, Motorboote, Skidoos – und vor allem Menschen. Andere alltägliche Dinge wie Radios, Fernseher, Möbel, Kleidung oder Elektrogeräte verwunderten und faszinierten sie. Man mochte fast glauben, sie hätte solche Sachen nie zuvor gesehen. Ein grönländisches Wolfskind. Aber sie war viel zu intelligent, um eine Wilde zu sein. Sie war einfach nur auf eine gewisse Art und Weise weltfremd.
    Nun, um auf die Sache mit der Schwangerschaft zurückzukommen: Die Ärzte in Tasiilaq fanden bei der Ultraschalluntersuchung rein gar nichts.«
    »Gar nichts?«, echote ich.
    »Nun ja, zumindest keinen Fötus. Ich meine, bei ihrem Bauchumfang hätte er ja eigentlich schon ziemlich weit entwickelt sein müssen. Aber sie war nicht schwanger. Da somit keine Gefahr für ein Ungeborenes bestand, entschlossen sich die Ärzte, eine Röntgenaufnahme ihres Bauches zu machen. Ihr Uterus war aufgebläht, aber scheinbar leer.«
    Meine Nackenhärchen begannen sich aufzurichten. Ein Schallnebel, schoss es mir wider alle Logik durch den Kopf. Ich vermied es, einen Blick zu DeFries und Hagen zu werfen.
    »Statt dessen schien ihr Unterleib mit irgendeiner Art Flüssigkeit gefüllt zu sein«, fuhr Hansen fort. »Und diese Flüssigkeit wurde zweifellos mehr, was dem Mädchen natürlich immer stärkere Schmerzen bereitete. Die Ärzte entschieden, Nauna zu punktieren, um ernsthafte Komplikationen zu vermeiden. Als wir Nauna erklärten, was das zu bedeuten hatte, bekam sie furchtbare Angst und wollte sofort wieder nach Hause. Die Ärzte meinten, sie könnten sie nicht gegen ihren Willen dabehalten und operieren. Ihre Familie solle jedoch so rasch wie möglich versuchen, sie davon zu überzeugen, dass die Sache sehr ernst sei.
    Also flog ich mit Nauna am selben Tag wieder zurück nach Mestersvig.
    Am Abend verließ sie allein das Haus. Sie ging oft zu einer bestimmten Stelle an der Küste, und da es Juni war und die Sonne die ganze Nacht am Himmel stand, machte sich auch niemand ernsthaft Sorgen um sie. Man respektierte ihren Wunsch, mit ihren Gedanken allein zu sein. Oft saß sie stundenlang an der Küste und blickte hinaus aufs Meer, als sehne sie sich nach einem Ort, der in unerreichbarer Ferne lag, irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans. Vielleicht war es die Aufregung des Fluges, oder die Untersuchungen im Krankenhaus, oder auch die Angst über ihren körperlichen Zustand und die Zukunft. Jedenfalls blieb sie in dieser Nacht sehr lange fort. Als sie aber nach Mitternacht noch immer nicht zurück war, machten sich Ruono und Anuka mit ein paar Freunden auf die Suche nach ihr.
    Ich weiß nicht genau, was mit Nauna in dieser Nacht wirklich geschehen war. Manche sagen dies, manche das.« Ich hörte Hansen wieder trinken. »In einer Sache stimmen jedoch alle Geschichten überein: Es war Anuka, der Nauna fand. Sie lag bewusstlos auf den Felsen nahe dem Wasser, und so verkrümmt,

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