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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Klippe.
    Aus dem Inuit-Lager erklang ein vielstimmiger Aufschrei. Wer von uns noch nicht am Rand des Kraters stand, tat es innerhalb der nächsten Sekunden. Als ich die Klippe erreicht hatte und hinabblickte, waren Talalinqua und Chapmann bereits über einhundert Meter tief gefallen. Noch immer hielt der Schamane die brennende Kreatur umklammert, während ein Rauchschweif ihrem gemeinsamen Sturz folgte. Dann schlugen beide Körper gegen die flacher werdende Kraterwand, wurden auseinander gerissen und verschwanden in Lawinen aus Eis und Schnee.
    Die aufgewirbelten Schneemassen erstickten Chapmanns Flammen, wogegen Talalinqua die Hälfte seiner Fellkleidung vom Leib gerissen wurde. Am Ende schlitterten beide den Hang hinab, den die Kraterwand in zunehmender Tiefe bildete. Als der Schamane und die Kreatur auf dem Eissee aufschlugen, wurden ihre Körper nahezu vollständig von den nachrutschenden Schneemassen begraben.
    Dann geschah etwas, dass niemand von uns erwartet hatte: Während einer der beiden Körper leblos liegen blieb, begann sich der andere nach kurzer Zeit wieder zu bewegen. Trotz der Entfernung war unschwer zu erkennen, dass es Chapmann war. Fassungslos mussten wir mit ansehen, wie er sich aus dem Schnee befreite, einige Meter weit in Richtung Kratermitte robbte und schließlich versuchte, aufzustehen. Er schaffte es jedoch nicht, lange auf den Beinen zu bleiben. Immer wieder schnellte er hoch, hastete schwankend zehn, zwanzig Schritte weit und stürzte wieder zu Boden, wo er längere Strecken auf allen Vieren vorankroch.
    »Was hat dieses Ding vor?«, murmelte Hagen.
    »Es geht dorthin zurück, woher es gekommen ist«, antwortete ich. »Um sich mit dem Shoggothen zu vereinigen.«
    DeFries bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick, während Rijnhards Hände zuckten, als wolle er sinnloserweise noch einmal mit dem Gewehr auf Chapmann anlegen.
    »Sie müssen’s ja wissen«, entlud der Arzt seinen Frust schließlich an mir.
    Ich funkelte ihn an. »Zweifellos.«
    DeFries murmelte auf Grönländisch etwas zu einem seiner Inuit-Mitarbeiter und schickte ihn zurück in die Station. Nach kurzer Zeit kehrte der Eskimo atemlos mit einem Feldstecher in der Hand zurück.
    Chapmann bewegte sich inzwischen nicht mehr aufrecht, sondern kroch oder robbte vorwärts. Dabei demonstrierte er eine außerordentliche Zielstrebigkeit. Wenige hundert Meter vor dem Schluckloch hatte er sich seiner verbliebenen Kleidung entledigt. DeFries, der die Flucht der Kreatur minutenlang schweigend und mit versteinertem Gesicht beobachtet hatte, setzte den Feldstecher ab, sah mich kurz an und reichte ihn mir wortlos. Ich benötigte ein paar Sekunden, um aufgrund der starken Vergrößerung eine Bewegung auf dem Eis zu erkennen. Als ich Chapmann zufällig für einen kurzen Augenblick erfasste, war ich erschüttert von dem Anblick, den er bot. Es waren über zwei Kilometer, die mich von ihm trennten, und die Mitternachtssonne stand zu tief über dem Horizont, um den Kratergrund zu erhellen. Aber ich sah Chapmann dennoch, denn je näher er dem Schluckloch kam, desto intensiver begann sein Gallertkörper zu glühen. Er glitt und wand sich wie eine Molluske über das Eis auf die Öffnung zu. Dann kippte die schillernde Masse plötzlich vornüber und war verschwunden.
     
    Ich erwartete, dass jede Sekunde ein neuerliches Beben den Krater erschüttern würde. Dass irgendetwas passierte, was uns, die wir schweigsam beisammen standen und in die Tiefe blickten, wissen ließ, dass Chapmann und der Shoggothe sich dort unten vereinigt hatten. Aber alles blieb ruhig. Erst das Schlagen einer Zeremonientrommel beendete die drückende Stille, und einen Atemzug später begann Talalinquas Gefolge einen monotonen, fast nur gesummten Gesang zu intonieren. Ich studierte die Inuit und erkannte, dass auch die Einheimischen, die für DeFries arbeiteten, gedanklich in das verhaltene Lamento mit eingestimmt hatten. Gewiss war es ein Fortschritt, dass alle, die sich auf diesem gottlosen Flecken Erde eingefunden hatten, zum ersten Mal beisammen standen; wenn auch ein zweifelhafter.
    Alle …?
    »Wo ist Stomford?«, fragte ich und sah mich suchend um.
    »Er liegen in Notunterkunft A«, informierte mich Mylius. »War vor Container in Ohnmacht gefallen, als dieses Ding hat begonnen, durchzudrehen.«
    »Dem hässlichen Rußfleck, der den Quarantänecontainer ziert, und der gesprungenen Scheibe nach zu urteilen, muss er ein paar Sekunden mit dem Flammenwerfer auf das Fenster

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