Imagon
schien sich durch die Flüssigkristalle des Bildschirms zu bohren, als er fortfuhr: »Wer einmal gesehen hat, wie ein Delta-Virus auf einen Menschen wirkt, kann es niemals vergessen. Viren sind unsere einzigen Rivalen um die Herrschaft über diesen Planeten, meine Herren. Mehr als Raubtiere und Giftschlangen, mehr auch als Dürren und Sturmfluten haben sie den Menschen geformt. Sie haben Völkerwanderungen ausgelöst, ganze Stämme ausgelöscht und Kriege entschieden. Die Lepra brauchte den Nährboden enger und dreckiger Städte, wie sie erstmals im Mittelalter entstanden. Pest und Pocken benutzten die Handelswege aus dem Orient, um Europa zu erobern. Die Tuberkulose war die Antwort der Mikroben auf die Industrialisierung. Änderte der Mensch sein Verhalten, so änderte sich mit ihm das Meer der Krankheitserreger, in dem er lebt.
Ein Mikrobenstamm ist hinsichtlich der physischen Veränderungen, denen Chapmann und die anderen unterworfen waren, besonders interessant: das Filo-Virus. Es greift alle Organe und nahezu das gesamte Gewebe des Körpers an, mit Ausnahme der Skelettmuskulatur und der Knochen. Zuerst befällt es die Zellen in Nieren, Leber und Haut und verdaut bald darauf den ganzen Körper zu einem zähflüssigen Schleim aus Virusteilchen. Abgestorbene Blutkörperchen lassen das Blut klumpen. Gerinnsel bleiben an den Gefäßwänden hängen. Die Sauerstoffversorgung stockt. In Gehirn, Leber, Nieren, Darm und Brust kommt es zu Nekrosen. Das Virus verdaut Kollagen, das wichtigste Stützprotein des Bindegewebes, zu Brei. Die unteren Hautschichten verflüssigen sich. Unter schrecklichen Schmerzen schälen sich Zunge und Rachen. Fetzen abgerissener Haut mischen sich in schwarzes Erbrochenes oder werden ausgehustet. Die Adern lecken, und durch die Lecks pumpt das Herz Blut in die Brusthöhle. Auch im Gehirn wütet das Virus. Einige seiner Opfer rissen sich, aus allen Körperöffnungen blutend, in Verwirrung die Kleider vom Leib und irrten orientierungslos umher. Nach dem Tod der Infizierten zerfällt das Gewebe sehr schnell und verwandelt sich selbst in extremer Kälte in eine geleeartige Masse.
Apropos geleeartige Masse: Was, Professor, ist ein Shoggothe?«
DeFries sog hörbar die Luft ein.
»Ich kann unbescheiden behaupten, einer der führenden Epidemiologen Ihres Landes zu sein und habe in diesem Job verdammt viel Erfahrung gesammelt«, fuhr Krogh fort, »aber dieser Begriff ist mir unbekannt.« Er zog eines von DeFries’ Notizbüchern heran und schlug es an einer markierten Stelle auf. Einige Sekunden las er still vor sich hin, ehe er sagte: »Sie schreiben hier etwas von – ich zitiere: unheiligem Protoplasma.« Krogh sah mit in Falten gelegter Stirn auf. »Was soll das sein, Professor; unheiliges Protoplasma?«
DeFries warf mir einen beinahe schon hilfesuchenden Seitenblick zu, schüttelte den Kopf und erklärte: »Ich muss damals zu sehr von Emotionen geleitet worden sein. Was ich eigentlich schreiben wollte, war: unreines Plasma. Verseuchtes Plasma.«
»Natürlich, Professor …« Kroghs Miene war ausdruckslos geworden. »Warum habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, Sie würden uns nur das erzählen, was wir hören wollen?«
DeFries rang sich ein trauriges Lächeln ab. »Weil Sie sich Ihr Urteil längst gebildet haben, Krogh. Das einzige, das Sie von Ihrer Warte aus akzeptieren können. Das einzige, das Ihrem Bewusstseinshorizont gerecht wird.«
Krogh lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Dann lassen Sie mich Ihnen – Ihnen allen, die Sie immer noch nicht begriffen zu haben scheinen, welche Tragweite diese Geschichte hat – etwas über meinen Bewusstseinshorizont erzählen. Dieser Plasmaverband, den Sie, verehrter Professor, als ›Shoggothen‹ bezeichnen, kann unser aller Ende sein. Zumindest darin sind wir uns einig, wenn ich die Essenz aus diesem mystisch-pseudowissenschaftlichen Kokolores ziehe, der in Ihren Büchern steht.
Viren ernähren sich nicht, meine Herren. Sie scheiden keine Abfallstoffe aus, sie bewegen sich nicht, sie teilen sich nicht. Sie kennen nur ein Verhalten: anpassen und mit extrem hoher Geschwindigkeit mutieren. Selbst wenn sich Millionen Mutanten als nicht überlebenstüchtig erweisen, kann ein einziges richtig angepasstes Virus sich in Stundenfrist wiederum vermillionenfachen. Viren sind Molekülverbände, die erst durch Leben zum Leben erweckt werden. Sie nutzen die biochemische Maschinerie der Zellen, um sich zu vermehren. Ohne einen
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