Imagon
abzuschätzen, gelangten wir zu der Überzeugung, dass der ehemals freigelegte Eingang in den Tempel unter Tonnen von Eis und Schutt begraben sein musste und ein Hinabsteigen nicht nur sinnlos, sondern vor allem lebensgefährlich sein würde. Meine Narbenhaut schützte mich zwar vor Hitze und Kälte, und angesichts meiner übermenschlichen Kräfte hätte ich sicher einige Felsbarrieren mit bloßen Händen beiseite räumen können, doch sie war kein unzerstörbarer Schutzpanzer. Ich konnte von herabstürzenden Trümmern verletzt oder erschlagen werden, ganz zu schweigen von DeFries, dem seine gesundheitliche Verfassung und die Kopfwunde zusehends zu schaffen machten. Keiner von uns beiden war unsterblich.
Was wir zudem erkennen konnten, war eine große Truhe, die – halb unter Eisbrocken begraben und von niedergestürzten Felsen deformiert – auf der dritten Ebene stand. Richards’ Leute mussten sie aus dem untersten Stockwerk herauftransportiert haben. Womöglich hatten sie vorgehabt, die Truhe ganz nach oben zu schaffen. Ob sich der Sprengstoff, der ursprünglich darin lagerte, noch in ihr befand, blieb fraglich.
Beim Blick durch ein Loch, das über der obersten Eishalle klaffte, sahen wir etwas, das DeFries für eine Weile völlig aus der Bahn warf. Erst als er mich auf die Veränderung hinwies, erkannte ich ebenfalls, was ihn so entsetzte.
Der Schutt aus Fels- und Eistrümmern bedeckte den Boden der Halle fast hüfthoch, doch lag er keinesfalls hoch genug, um das Relief an der Außenwand des Gebäudes völlig zu verdecken. Besser gesagt: jene Stelle, an der sich das Ideogramm ursprünglich befunden hatte. Nun wirkte die Fläche, als habe enorme Hitze die oberste Gesteinsschicht weggeschmolzen. Wo das Relief geprangt hatte, klaffte eine flache Einbuchtung, deren Oberfläche im Licht ebenso glasiert wirkte wie die Wände und die Decke der riesigen Kaverne in den Tiefen des Mount Breva …
»Das müssen Mertens’ Leute angerichtet haben, nachdem ihnen dasselbe widerfahren war wie mir«, vermutete ich.
»Nein«, erwiderte DeFries. »Das ist kein Menschenwerk.« Er musste sich setzen, bis er seine Fassung zurückgewonnen hatte. »Das war Talalinqua. Er zerstört die Bannsiegel – das einzige, was den Shoggothen bisher davon abgehalten hat, in den Tempel einzudringen; die wahren Zeichen. Die Sigille der Macht der Aqunaki über die Esh’maga.«
Ein abschließender Blick durch das aufgerissene Dach des obersten Gebäudes ließ erkennen, dass auch von diesem Raum aus einer jener röhrenartigen Tunnel in die Tiefen des Berges führte. Nun hatten wir zwar einen Eingang, von dem wir hoffen konnten, dass der dahinter liegende Tunnel ebenfalls bis hinab in die Kaverne führte – das eigentliche Problem jedoch war die Ropan-Truhe.
»Einer von uns muss da runter und so viel Sprengstoff heraufschaffen, wie er tragen kann«, erklärte DeFries, und sein Blick verdeutlichte mir, wer ›einer von uns‹ war. »Trauen Sie sich das zu?«
Ich verzog das Gesicht. »Sofern sich das Ropan noch in der Truhe befindet«, gab ich zu bedenken.
Die beiden Geräteboxen im Generatorcontainer waren von Schutt übersät, aber weitgehend unbeschädigt. Um an ihren Inhalt zu gelangen, mussten wir sie mit Gewalt aufbrechen. Mit Helm, Hüftgurt, Steigklemmen, Karabinern, Abseilbremsen, zwei großen Rucksäcken und je einer Mag-Lite ausgerüstet, machten wir uns auf der brüchigen Eisdecke daran, Sicherungshaken in die Tempelwand zu schlagen. Dann seilte ich mich durch die Einbruchstellen vorsichtig von Ebene zu Ebene ab, begleitet von einem Regen losgelöster Eisstücke. Um auf die sichere Seite der Halle zu gelangen, war ich gezwungen, ein paar Mal hin und her zu pendeln. Der Boden im vorderen Bereich war nahezu vollständig in der Tiefe verschwunden. Ich ließ den Strahl der Mag-Lite kreisen und konnte einen Blick hinab ins unterste Stockwerk werfen. Ein meterhoher Schuttberg aus Eisbrocken erhob sich dort und hatte den jüngst frei geschmolzenen Zugangstunnel zum Tempeleingang fast unter sich begraben. Lediglich ein schmaler Spalt war noch zu erkennen.
Der Deckel der Sprengstofftruhe war so stark deformiert, dass selbst ich Mühe hatte, ihn ohne Brecheisen zu öffnen. Als er schließlich unter protestierendem Kreischen aufklappte, erkannte ich, dass Richards’ Männer tatsächlich begonnen hatten, das Ropan abzutransportieren. Dass Talalinqua sich am Sprengstoff bedient hatte, erschien mir unwahrscheinlich. Lediglich ein halbes
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