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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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zu nehmen. Offenbar wollte er dadurch vermeiden, dass ich neugierig weiterblätterte.
    Die aufgeschlagene Seite zeigte ein verschlungenes Liniengebilde, das ich sofort als Skizze des Basreliefs erkannte. Darunter standen schnörkelige Zeichen, die ich nicht zu deuten vermochte.
    DeFries’ handgefertigte Zeichnung strahlte nicht einmal ansatzweise jene Energie aus, die er dem metergroßen Original im Tempel zuschrieb. Dennoch beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, während ich sie betrachtete.
    Die Zeichnung sah so aus:
     

     
    »Was soll das darstellen?«, fragte ich. »Eine Schlange?«
    »Einen Wurm.« DeFries schenkte sich Kaffee nach und nippte vorsichtig an dem brühwarmen Getränk. »Dieses Ideogramm steht für den Namen einer uralten Gottheit. Jeder, der mithalf, die Außenwand freizulegen, hat seine Energie zu spüren bekommen. Keiner jedoch so intensiv wie Sie, Poul. Einer der Einheimischen äußerte entsetzt, es sei ein Schutzsymbol des ehemaligen Bewohners und stehe für den Namen eines mächtigen Geistes; wobei ich nicht ausschließen möchte, dass für ihn der Bewohner und der Geist ein und dasselbe Wesen darstellen.«
    »Eine Art Namensschild.«
    »Nein, ganz und gar nicht«, entgegnete DeFries, »denn es ist keinesfalls ein Schutzsymbol, sondern ein so genanntes Taauit, ein Ideogramm des Rufens. Ich kenne den Namen des Wesens, das es charakterisiert, doch diesen jetzt zu nennen könnte bedeuten, Ihr Vertrauen vorzeitig zu verspielen. Allerdings bin nicht nur ich mit dieser Gottheit vertraut, sondern auch Talalinqua. Nachdem ich ihm auf sein Drängen hin die Zeichnung gezeigt habe, hat er sich in sein Iglu verzogen und kein Wort mehr geredet. Als er nach drei Tagen wieder ans Tageslicht gekrochen kam, versprühte er das Zehnfache seiner üblichen Griesgrämigkeit und versuchte mir palavernd und gestikulierend nahe zu legen, das, was das Eis gefangen gehalten hatte, nicht noch mehr zu provozieren. Er sagte, wir sollen die Alten ruhen lassen, selbst wenn diese nie gelebt hätten. Die Aqunaki kämen sonst über die Welt, um ihre Herrschaft wieder anzutreten, und so weiter und so fort.«
    »Wer um alles in der Welt sind die Aqunaki?«
    »Dieser Terminus deckt sich mit der Bezeichnung ›Alte Götter‹. Wörtlich bedeutet er ›Äußere Wesen‹. Wenn man es im hiesigen Dialekt allerdings korrekt übersetzt, erkennt man, dass die Inuit mit Aqunaki nicht ihre Götter bezeichnen, sondern Wesen, die das Land beherrschten, nachdem Sedmeluqs Herrschaft zu Ende war …«
    »Sedmeluq?« Meine Körpertemperatur sank um ein paar Grad.
    »Der Reihe nach, Poul.« DeFries zog an seiner Pfeife, und ich merkte ihm an, dass er nervöser wurde. »Talalinqua hatte irgendwann aufgegeben, uns zu beschwören, nicht tiefer ins Eis vorzudringen«, fand er seinen Faden wieder. »Nach wenigen Stunden in den Hallen waren wir jedoch ohnehin physisch und psychisch so geschwächt, dass wir die Arbeit in immer kürzeren Abständen unterbrechen mussten, um uns zu erholen. Einige meiner Männer – allesamt Einheimische – verließen uns. Sie spannten die Hunde vor ihre Schlitten oder setzten sich auf ihre Skidoos und flohen. Die wenigen, die geblieben sind, erledigen nur noch die Proviantversorgung.« DeFries seufzte schwer. Dann hob er den Rucksack auf seine Knie, zog eine Weinflasche heraus, stellte sie auf den Tisch und sagte: »Ich fürchte, das wird eine lange Nacht.«
     
    In den folgenden Stunden erfuhr ich vieles, das sich mit meinen mysteriösen Träumen deckte. DeFries wurde nicht müde zu betonen, dass wir uns auf einem fast neunhundert Meter dicken Eisschild befanden. Der Tempel war demzufolge in beachtlicher Höhe entlang der Felswand oder sogar an ihr empor gebaut worden. DeFries war überzeugt, dass der bisher freigelegte Teil lediglich die Spitze eines Komplexes war, der sich getreu meiner Traumvisionen an der Bergwand entlang zog und in nicht zu ermessende Tiefen führte.
    »Wir stehen mit der Grabung unter Zugzwang.« DeFries starrte auf eine aufgeschlagene, jedoch leere Seite seines Notizbuches und machte eine lange Pause, in der er die Augen geschlossen hielt. »Dieses Wesen im Krater kann nicht an die Oberfläche, solange es hell ist, aber es kann ebenso wenig in den Tempel gelangen, solange die Bannsiegel an seinen Wänden prangen. Ohne Zweifel wird es die ersten Minuten nutzen, in denen die Sonne hinter den Horizont gesunken ist. Gnade uns Gott, wenn es uns zuvorkommt …«
    »Was hat dieses Geschöpf mit dem

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