Imagon
ich.
»Das tut er auch nicht«, versicherte DeFries. »Krieg ist meine persönliche Definition des Geschehens.« Er füllte mein Weinglas auf und reichte es mir. »Was denken Sie?«
»Der Taaloq besitzt nicht mehr Substanz als jeder andere Schöpfungsmythos über die himmlische Rebellion, Licht und Schatten, den Sturz der Schlange in die Hölle und der Erschaffung des Menschen.« Ich nippte am Wein. »Mit der einen oder anderen Anleihe aus Miltons Lost Paradise.«
DeFries rang sich ein schmales Lächeln ab. »Ja, da gebe ich Ihnen Recht. Bis zu dieser Stelle ist es für einen unbedarften Menschen nur eine Variation des göttlichen Plans. Die Brücke in die Quasi-Jetztzeit wird erst im nächsten Kapitel geschlagen. Ich werde für ein paar Zeilen im Originalwortlaut fortfahren und einige Sätze des Vorangegangenen wiederholen. Hören Sie gut zu.
Das Tor von Taqana beobachten sie, das Tor von Qaapra bewachen sie, und das Tor, dessen Hüter Iak Sakkak ist, binden sie. All die älteren Kräfte widerstehen dem magischen Spruch, der Beschwörung der Urkraft und der Macht der Älteren Götter: Qaapra, dem Gott der Winde. Iak Sakkak, dem Gott des Feuers. Qutulu, dem Gott des Wassers, und Sedmeluq, dem Gott der Erde, der in Qur auf wiederkehrende Zeiten wartet …«
»Einen Moment!«, unterbrach ich DeFries. »Sagten Sie Qutulu?«
»Ganz richtig, Poul.«
Ich starrte mein Gegenüber an. »Soll das ein Witz sein?«
»Es steht mir nicht nach Scherzen.«
Ich prustete, teils belustigt, teils entgeistert, verstummte aber sofort wieder. »Der Qutulu?«, fragte ich ungläubig. »Dieser Krakengott aus den Schauergeschichten dieses versponnenen Amerikaners?«
DeFries nickte.
Ein Fisch von den Sternen, hallte Rijnhards Aussage von heute Nachmittag in meinem Kopf wider. Ein Tintenfisch vielleicht, oder ein Riesenseestern …
»Die Wesenheit, die das Ideogramm auf dem Relief charakterisiert, ist ein Esh’magone«, erklärte DeFries unbeeindruckt. »Einer der Älteren Götter. Allerdings zeigt es nicht Qutulu, sondern Sedmeluq.«
Ich war längst in Abwehrhaltung gegangen. »Und was oder wer soll das sein?«
»Der Wurmgott. Das Liber N’aleth nennt ihn den unterirdischen Wühler. Shuddle-Mel!«
»Aber …« Mein Blick huschte durch den Container. »Das ist doch Unsinn! Du liebe Zeit, Qutulu und Shuddle-Mel sind literarische Spinnereien!«
»Jesus Christus etwa nicht?«
»Sie glauben diesen Quatsch tatsächlich?«
»Ich brauche nicht mehr daran zu glauben, Poul.«
»Dann halten Sie wohl auch Batman für real, und Dracula, und Elliot, das Schmunzelmonster …«
»Es gibt Darstellungen und Erzählungen der Esh’maga-Rasse auf der ganzen Welt, in Religionen und Mythen, die Jahrtausende älter sind als jene um Baal, Luzifer oder Kali.« DeFries blätterte beim Reden in dem zweiten Notizbuch herum, verglich komplexe Handzeichnungen mit simplen. »Qutulu beispielsweise besitzt unzählige Gestalten und Namen«, überbrückte er die Minuten, bis er die richtige Seite gefunden hatte. »Lovecraft nannte ihn Cthulhu, die Inkas Quetatol, die Araber Khadhulu. Die Chinesen fürchten sich vor einer Gottheit namens T’u-hu-lu, die Inder vor einem Seemonster namens Kutala. Ah, hier …« Er drehte das Buch auf dem Tisch herum und tippte auf eine weitere Handzeichnung. »Shudde M’ell«, erklärte DeFries. »Vergleichen Sie die Zeichnung mit Ihrem Talisman …«
Ich studierte die Skizze. Sie hatte – abgesehen von zwei Besonderheiten – zweifellos Ähnlichkeit mit dem Sonnenantlitz des Anhängers. Die Darstellung in DeFries’ Buch besaß jedoch so etwas wie einen Wurmfortsatz mit Kriechfuß, und: »Seine Augen stehen vertikal zueinander«, stellte ich fest.
»Das sind keine Augen, Poul«, berichtige mich DeFries. »Es sind seine zwei Mäuler!«
Ich betrachtete die Zeichnung mit wachsendem Unbehagen. »Der Sternfisch …«, meinte ich nachdenklich.
DeFries runzelte die Stirn. »Woher kennen Sie diesen Begriff?«
»Von …« Ich biss mir auf die Lippe. »Rijnhard erzählte mir gestern davon. Er sagte, im Lager kursiere das Gerücht, Talalinqua sei in Trance zum Meeresgrund gereist und dem Schatten oder Spiegelbild eines Sternfisches begegnet.«
»Einem aggaujaq taqrak, richtig.« DeFries faltete die Hände vor seinem Bauch. »Aber Sie müssen sich etymologisch mit diesem Begriff befassen, um ihn korrekt zu übersetzen. Taqrak bedeutet in diesem Fall nicht Spiegelbild, sondern ›schillernd‹ oder ›leuchtend‹. Mit dem
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