Imagon
Tempel zu tun?«, wunderte ich mich nur noch. »Weshalb ist diese Kreatur überhaupt hier und hat diesen Krater geschaffen? Von was für einer Art Lebewesen sprechen Sie eigentlich?«
DeFries wirkte, als sei er soeben aus einem Tagtraum erwacht. »Die Inuit erzählen sich eine Legende«, murmelte er. »Die Geschichte von Sedmeluq, seinen Kindern und dem Alten Meer.«
»Eine Legende?«, empörte ich mich. »Wollen Sie mir jetzt noch ein Märchen erzählen?«
DeFries klappte das Notizbuch zu und legte es beiseite. »Ich möchte Ihnen nur begreiflich machen, was hier vor sich geht. Also tun Sie mir den Gefallen und hören Sie zu!
Die Welt der Inuit und ihrer Geschichten ist eins mit dem Kosmischen. Es gibt keine unüberwindlichen Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, Erde und Universum oder Wissen und Glauben. Charakteristisch für ihre Mythenwelt sind Geistwesen. Sie verkörpern das Unfassbare, das sie sich zu erklären versuchen: Naturerscheinungen und Jenseitsvorstellungen. Ihre Götter sind Sonne, Mond und Gestirne, das Meer, der Himmel und der Wind, Berge und Gletscher. Die Inuit personifizieren sie, kleiden sie wie Menschen und lassen sie wie Menschen sprechen. Für ihre Geisterwelt bestimmend ist das Meer mit seinen Bewohnern, beherrscht von der Mutter des Meeres. Auf diese senkt sich alles Böse, das die Menschen bewirken, als Schmutz nieder. Das Meer ist im Glauben der Inuit der Himmel, das Inlandeis hingegen die Hölle. Irgendwo dort draußen, in dieser Hölle, soll sich unentwegt ein riesiger blutiger Mühlstein drehen und unzählige menschliche Gebeine zermahlen. Was sagt Ihnen der Name Taqana?«
»Er gehört, soviel ich weiß, einer Eskimo-Gottheit.«
»Einer Göttin, die im Zorn Stürme und Krankheiten schickt«, präzisierte DeFries. »Sie ist eine der zahlreichen Schöpfergestalten dieses Landes, eine Art Urmutter. Ihr vollständiger Name lautet Taqanaqapsaluq. Sie war die Gemahlin des Pamaat.« Er öffnete das zweite Notizbuch. Scheinbar ziellos blätterte er darin herum, und ich konnte erkennen, dass es über weite Stellen vollgeschrieben war. »Ich bin viel gereist in den letzten zwölf Jahren, rund um die grönländische Küste und ständig auf der Suche nach einem Mythos, den die Inuit den Taaloq nennen. Man kann ihn mit der Edda vergleichen, oder mit dem Alten Testament, oder dem Gilgamesch- Epos. Der Taaloq erzählt vom urzeitlichen Kampf der Götter, dem Sieg des Lichts über die Mächte des Chaos und des Todes.
In diesem Volksglauben, der über Jahrtausende mündlich weitergegeben wurde, ist Tanaqa die Urmutter des Alls, gleichzeitig aber auch das urzeitliche Chaosungeheuer, das vom Gott Irma, dem Beherrscher des Universums, besiegt wurde. In Tanaqas Dienst steht ihr dämonischer Sohn Qaapra, den sie zum Herrn über die Götter erheben wollte. Der Taaloq ist das Zeugnis eines Glaubens, der schon existierte, ehe in Ägypten der erste Pharao regierte.« DeFries sah kurz auf und strich mit seinen Fingern geistesabwesend über die handbeschriebenen Seiten. »Die Anzahl der Taaloq- Worte soll heilig sein.«
Ich legte den Kopf schräg und versuchte, einen Blick in das Buch zu werfen. »Ist er das?«
»Ja, meine eigene Niederschrift; womöglich die erste und einzige, die existiert. Ich habe fast ein Jahrzehnt meines Lebens investiert, um an ein Wissen zu gelangen, das von Schamane zu Schamane weitergegeben wird …«
»Und wie sind Sie zu der Ehre gelangt?«
DeFries lächelte hintergründig. »Die Mühen der Gebirge liegen hinter mir, vor mir liegen die Mühen der Ebenen.«
Ich sah ihn zweifelnd an.
»Nein, ich bin kein Angakoq.« Er lächelte säuerlich. »Zumindest nicht im Sinne derer, die den Taaloq hüten. Es ist ein beschwerlicher Weg, auf dem man sich das Vertrauen der Schamanen erarbeiten muss, Poul – ohne die Gesellschaft eines Menschen und den Klang einer Sprache; allein mit dem Eis, dem Meer, dem Wind und den Gezeiten …« DeFries blätterte zum Anfang des Buches, während ich ihn nur skeptisch musterte. Er schien sich meines Blickes bewusst, doch sein eigener galt dem vor ihm liegenden Text. »Man nimmt an, dass die Vorfahren der Inuit vor 4000 Jahren aus Mittelasien über Sibirien und Alaska nach Nordgrönland einwanderten. Die Geschichte dieses Volkes ist jedoch nirgendwo aufgeschrieben, alles wird mündlich überliefert. Details gehen über einen solchen Zeitraum unausweichlich verloren, Namen, Schauplätze und Zusammenhänge ändern sich; auch die des Taaloq. Ich habe
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