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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Begriff aggaujaq verhält es sich folgendermaßen: Die Inuit – zumindest die der Neuzeit – kennen weder Schlangen noch Lurche oder Schnecken oder ähnliches Getier. Aufgrund des Permafrostbodens existieren auf Grönland keine Reptilien oder Amphibien. Vor Tausenden von Jahren war das womöglich anders. Im Sprachgebrauch der heute lebenden Inuit kann es also nur die heute lebenden Tiere geben. Exoten kennen sie kaum. Ähnliches fällt einfach unter den Aspekt des Vertrauten. Ein Aal ist ein Fisch, sieht aber aus wie eine Schlange – oder wie ein Wurm. Talalinqua sah in Wirklichkeit keinen Sternfisch, sondern einen schillernden Wurm mit einem sternförmigen – oder besser gesagt: tentakelbewehrten – Kopf. Und die Bezeichnung ›Meeresgrund‹ ist ebenfalls sinnwidrig. Richtig wäre: ›Meer unter der Erde‹. Der Schamane hatte eine Vision von Shudde M’ell im unterirdischen Meer von Qur.«
    Ich zog eine Grimasse.
    »Laut dem Taaloq«, fuhr DeFries fort, »der Jahrtausende älter ist als das Liber N’aleth oder die Magan-Schrift, sind Einzelgeschöpfe wie Shudde M’ell oder Qutulu, wie auch die restlichen Älteren Götter in ihren Erscheinungsformen in Wirklichkeit nur Abspaltungen eines viel gigantischeren, unfassbareren Wesens, des Qur. Diese Einzelgeschöpfe oder Separationen bevölkern die vier Elemente. Es sind das Land beherrschende Geschöpfe wie Nyarlathotep oder Azathoth, die dem ägyptischen Kulturraum zugeordnet werden können, oder in den Ozeanen beheimatete wie Dagon oder Cthulhu. Wesen, die sich unter der Oberfläche aufhalten wie Shudde-M’ell oder Yig, oder jene, die die Atmosphäre beherrschen wie Hastur oder Ithaqua.«
    DeFries sprach wie ein Biologe, der über urzeitliche Bakterienkulturen referierte. Ich sah ihm hin und wieder für ein paar Sekunden in die Augen, wenn sein Blick aus dem unsichtbaren Raum hinter der irdischen Bühne ins Hier und Jetzt zurückschweifte, in die triste Realität eines genormten Wohncontainers auf Grönland. Ich tat es, ohne ein Nicken oder aufmerksames Stirnrunzeln, emotionslos, fast schon apathisch. Desinteressiert wäre vielleicht die treffendste Beschreibung gewesen. Ständig nippte ich an meinem Glas, aus dem Instinkt heraus, durch irgendetwas Interesse – Aufmerksamkeit – heucheln zu müssen. In meiner anderen Hand zitterte eine Zigarette. Gerne hätte ich einen Blick in den Spiegel geworfen, um zu wissen, was mein Gesichtsausdruck offenbarte; Anspannung, Gleichgültigkeit oder einfach nur eine Miene, die sagte: Halt’s Maul, denn das ist Scheiße am Band!
    »Manche Überlieferungen erwähnen einen urzeitlichen Gallert, dem alles entspringt«, vernahm ich DeFries’ Stimme, während ich mit geschlossenen Augen meinen Nasenrücken massierte, »andere eine Art unfassbares Wesenskonglomerat – übrigens ein Aspekt, der auch Shub-Niggurath, dem größten Qur- Teilwesen nachgesagt wird. Diversen Texten und Überlieferungen zufolge besitzt Niggurath selbst die Fähigkeit, sich in Wesenheiten aufzuspalten, und kommt somit dem wahren Charakter des Qur, wie man ihn oder es sich vorzustellen hat, am nächsten. Ähnliches behauptet man jedoch auch von Yog-Sothoth, der als Alles-in-Einem bezeichnet wird. Keine dieser beiden Wesenheiten scheint – obwohl durch ihre Namen als Individuen bezeichnet – ein eigenständiges Wesen zu sein, sondern aus mehreren Subkreaturen zu bestehen. Manche nennen Qur sogar Das Alte Meer selbst, dem all diese unseligen Geschöpfe entstiegen sein sollen, aber mit dem sie weiterhin eins sind; ein Wesen, das wie eine unbegreifliche Flüssigkeit oder abiogene Masse die Höhlen und Ritzen der Erde erfüllt. Andere Schriften berichten, Qur schwimme lediglich im Alten Meer.« DeFries klappte das Notizbuch wieder zu und schob es beiseite. »Der Taaloq erzählt von einem Land Qur, einer Art Totenreich. Andere Quellen sind der Ansicht, es sei identisch mit dem versunkenen, rot leuchtenden Land Yoth.«
    Oh ja, dachte ich, rot ist es. Rot wie Fleisch und Blut …
    »Wer oder was das Qur in Wirklichkeit ist – ein versunkenes Land oder eine gigantische Kreatur, die vor Millionen von Jahren von den Sternen kam – vermag bis heute niemand zu sagen. Vielleicht ist es beides. Es heißt, es schicke Teile von sich auf die Welt, Abkömmlinge seines eigenen …« – DeFries fuchtelte auf der Suche nach dem passenden Begriff mit den Händen in der Luft herum – »was auch immer«, kapitulierte er schließlich und legte beide Hände mit gespreizten

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