Imagon
noch einmal einen Blick zurückwarf.
»Ein Shoggothe!«
Innerlich aufgewühlt stand ich vor drei schlichten, weißgestrichenen Holzlatten, die etwa zweihundert Meter vom Lager entfernt in Abständen von jeweils anderthalb Metern ins Eis geschlagen worden waren. Ich hatte die Stelle lange suchen müssen und war letzten Endes nur durch Zufall darauf gestoßen, als die Sonne für einen Augenblick hinter den Wolken hervorgekommen war und die Grabmale blasse Schatten auf den Schnee geworfen hatten.
Vom Lager aus war von den Gräbern nichts zu erkennen gewesen, und das weißgestrichene Holz ließ mich vermuten, dass dies beabsichtigt war. Es gab keine Kreuze, keine Blumen, keine Windlichter, nicht einmal Erhebungen, und ich rätselte im Stillen, ob hier wirklich drei Menschen verscharrt lagen oder die Grabmale nur einen symbolischen Zweck erfüllten. Auf jeder Holzlatte fand ich unter einer dünnen Schicht aus Schnee und Eis einen Namen, der in kleinen, unauffälligen Buchstaben mit schwarzer Farbe aufgepinselt worden war: Soerensen, Tielles und Ericksen.
Zum ersten Mal wurden mir der Ernst und die Ausweglosigkeit unserer Situation bewusst. Fast könnte man behaupten, ich betrachtete alles mit neuen Augen und neuen Sinnen. Gewissermaßen staunend. Staunend, dass die Welt, die ich zu kennen geglaubt hatte, tatsächlich nur eine Illusion war. Dass ihre Kruste dünn war und sich darunter eine andere Realität verbarg. Zum ersten Mal spürte ich die Wände des Käfigs, in dem wir alle saßen, und die Bedrohung, die uns umlauerte. Am schmerzhaftesten war das Bewusstsein, dass ich derjenige war, der in seiner Naivität und Gewissenhaftigkeit den einzigen Ausgang Stein für Stein zugemauert hatte, ohne zu bemerken, dass ich mich auf der falschen Seite des Ausgangs befand.
Zum ersten Mal besaß die Angst ein Gesicht. Es war ein kaltes Erwachen.
Die dicke Kapuze über meinem Kopf ließ mich Rijnhards Schritte erst wahrnehmen, als er fast schon neben mir stand. Ich erschrak über sein unerwartetes Auftauchen, versuchte es mir jedoch nicht anmerken zu lassen. Rijnhard verharrte eine Weile andächtig vor den Grabmälern, dann hob er den Kopf, sah hinauf zum Grat des Mount Breva und sagte: »Am Ende sind wir die objets trouvés des Todes, mit denen er sein grenzenloses Reich ausschmückt, um dem Himmel zu beweisen, dass wir anfangs Kinder Gottes waren …« Er sah mich an und grinste eisig. »Nikolaus Cybinski.« Seine Rechte verschwand in seinem Anorak und fischte den Flachmann hervor. »Chapmann wird der nächste sein, der hier seinen Platz findet«, kündigte er an, nachdem er seine Leber beschäftigt hatte. »Ich war gerade bei ihm. Er sieht aus, als wäre …« – er vollführte ein paar hilflose Gesten – »als würde er sich in eine Art …« Dann schüttelte er resignierend den Kopf. »Ich kann es nicht beschreiben. Es nicht aufhalten. Das Schlimmste ist: Er bewegt sich noch! Er atmet. Er gibt … Geräusche von sich. Sein ganzer Körper erzeugt diese grauenhaften Geräusche …«
Ich musste bei Rijnhards Worten unwillkürlich schlucken und schüttelte hilflos den Kopf. »Wie wollen Sie das alles geheim halten?«
»Überhaupt nicht. Sie wissen ja vom Quarantänegürtel. In zwei Tagen ist hier gar nichts mehr geheim.« Es klang wie ein Vorwurf. Dann bemerkte er mit einem Blick auf die Gräber: »Arme Teufel.«
»Sie wirken recht lieblos«, kommentierte ich die beschrifteten Holzlatten.
»Da liegt auch nicht viel drin. Nur Asche und Knochenreste.«
»Asche?« Ich hatte plötzlich wieder Naunas Beerdigung vor Augen, hörte die Stimme des Popen, roch den Weihrauch und sah ihre Urne, wie sie ins Grab gesenkt wurde. Aber genauso schnell verscheuchte ich die vermeintliche Parallele wieder aus meinem Denken. Wie sollte das zusammenpassen? Die Orgariowa hatte mir versichert, dass bei der russischen Nacht-und-Nebel-Aktion zum Krater keine Frau mit von der Partie gewesen sei. Oder hatte auch sie gelogen?
Rijnhard zuckte deprimiert die Schultern. »Wir mussten sie verbrennen. Genauer gesagt das, wozu sie geworden waren -Und um zu verhindern, dass sie wieder aufwachen …«
»Sie kennen den Taaloq?«
Rijnhard sah mich seltsam an. »Nein, um das zu wissen brauche ich keinen Taaloq.« Er starrte eine Weile schwer atmend auf eine der Holzlatten, als lasse er die Gedanken an etwas Abscheuliches Revue passieren. Dann sagte er: »Wir mussten Soerensen …« Er stockte, schluckte schwer. »Ich werde diese Schreie nie vergessen.
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