Immer Ärger mit Opa: Roman (German Edition)
Stunden erschöpft. Aber die Neugier war dann doch größer.
»Eigentlich ist alles halb so wild«, fand Jan, der naturgemäß ein sehr toleranter Mensch ist. Und dann erzählte er mir von dem Doppelleben, das unsere Mutter in Hamburg-Eppendorf führte.
»Was ist los, Spatz? Du sagst ja gar nichts mehr.« Papa sah mich über den Tisch aufmerksam an. Auf seiner Stirn stand eine steile Falte.
Ich zuckte zusammen. Mit meinen Gedanken war ich gut fünfzig Kilometer weit weg gewesen. Bei Mama in Hamburg-Eppendorf. In einer großen Altbauwohnung, die sie sich mit sechs Alt-Hippies teilte. Auf einer wilden Party mit Musik von Leonard Cohen, Räucherstäbchen und lauter bekifften Leuten.
»Eine Wohngemeinschaft«, hatte Jan das genannt. Wo da der Unterschied zur Kommune sein sollte, wollte mir nicht in den Kopf. Darüber grübelte ich nach, seit sich die geschrumpfte Familie zum Abendbrot in der Küche versammelt hatte. Ein uralter Kassettenrekorder auf der Fensterbank spielte Hits von Heino, Maries erklärtem Lieblingssänger, dem sie seit Jahrzehnten die Treue hielt. Aber selbst Die Schwarze Barbara konnte mir nicht den Appetit verderben.
Es gab Bauernmischbrot, Mettwurst, Heideschinken, saure Gurken, Butter und Schweineschmalz mit Grieben.
Lecker!
Nur den süßen Hagebuttentee dazu mochte ich nicht. Ein großes Bier wäre mir lieber gewesen, lieber sogar als der kühlste Berlucchi, aber als ich danach fragte, handelte ich mir einen strafenden Blick von Oma Grete ein.
Ach, nein. Großtante Grete. Daran musste ich mich noch gewöhnen.
Der strafende Blick fühlte sich aber genauso an wie früher, als ich noch keinen Alkohol konsumieren durfte.
»Es ist alles okay «, sagte ich jetzt zu Papa. »Mach dir keine Sorgen.«
»Sie frisst wie ein Scheunendrescher«, warf Grete ein. »Zwei Brote mit Schinken, eins mit Mett und jetzt eins mit dick Schmalz drauf. Und auf die sauren Gurken hat sie eben Salz gestreut.«
Echt? Hatte ich gar nicht gemerkt. Und seit wann wurde hier eigentlich mitgezählt, was ich aß?
Grete war noch nicht fertig. »Vielleicht ist die Deern ja schwanger. Würde zu ihrem wilden Leben passen. Und mit dem Braten in der Röhre kommt sie dann hier wieder angekrochen.«
Schwanger? Erschrocken rechnete ich schnell im Kopf nach, dann atmete ich erleichtert auf. Mein letztes Abenteuer lag schon recht weit zurück. Zwei Zyklen, um genau zu sein. Ich unterdrückte einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Ging keinen was an.
Wildes Leben? Da saßen hier aber welche am Tisch, die einiges mehr zu bieten hatten. Zum Beispiel einen Sohn, der gar nicht ihrer war …
»Nele kann nicht schwanger sein, wenn wir keine Störche auf dem Dach haben«, stellte Marie mit echter Lüttjens-Logik fest. Dafür erntete sie ein verächtliches Kopfschütteln von Grete, in dem sich die komplette sechzigjährige Familienlüge versteckte. Das kapierte ich natürlich auch erst seit heute Nachmittag.
Jan stieß mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. Ihm ging es genauso.
Papa ließ nicht locker. »Aber mit dir stimmt was nicht. Das sehe ich doch. Ist alles zu viel für dich. Das war ja ein Schock mit Opa.«
Und erst mit Opas Asche, dachte ich. Laut sagte ich: »Mir geht es gut, wirklich.« Mal abgesehen davon, dass deine Frau in Hamburg ein Doppelleben führt und wahrscheinlich jede Nacht ihren Liebhaber wechselt. Aber das muss ja nicht ausgerechnet ich dir erzählen.
Wie hatte Jan sich vorhin ausgedrückt? Genau: »Mama hat gesagt, sie würde verrückt werden, wenn sie nicht ihre WG hätte. Sie wäre dann schon vor Jahren abgehauen. Gleich nachdem wir beide weg waren.«
»Oh«, hatte ich erwidert. Mir war schmerzlich bewusst geworden, dass ich meine eigene Mutter nicht gut kannte.
»Wir waren nicht die Einzigen, die sich hier eingesperrt gefühlt haben. Und mit Papa hat sie sich schon seit Jahren gelangweilt.«
Gab es etwas Schlimmeres, das man über den eigenen Partner sagen konnte? Es schüttelte mich immer noch, wenn ich daran dachte.
In Eppendorf hatte Mama eine Gruppe Gleichgesinnter gefunden, die sich nach einiger Zeit gemeinsam die geräumige Altbauwohnung gemietet hatten. Dort trafen sie sich, wann immer sie Lust und Zeit hatten. Ein paar von ihnen wohnten dauerhaft dort, einige kamen ab und zu, so wie Mama. Dann wurde oft eine Party gefeiert, über den Weltfrieden diskutiert, kistenweise Wein konsumiert und ein bisschen guter Pot geraucht.
»Pot?«, hatte ich fassungslos kommentiert. »Unsere Mutter nimmt
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