Immer für dich da (German Edition)
nicht umzukippen. »Dann wird sie operiert und anschließend Chemo und Bestrahlung bekommen, richtig? Ich habe ein paar Freunde, die den Krebs bes-«
»Das hat sie alles schon hinter sich«, erklärte Johnny sanft.
»Was?Wann?«
»Sie hat dich vor ein paar Monaten angerufen«, sagte er, und dieses Mal hatte seine Stimme einen Unterton, den sie noch nie gehört hatte. »Sie wollte, dass du ihr im Krankenhaus beistehst. Aber du hast nicht zurückgerufen.«
Tully erinnerte sich an Kates Nachricht, an jedes einzelne Wort. Und an das Klicken. War der Rest der Nachricht gelöscht worden? Hatte es einen Stromausfall gegeben oder war das Band voll gewesen?
»Sie hat aber nicht gesagt, dass sie krank ist«, erwiderte Tully.
»Sie hat dich angerufen«, entgegnete Mrs M.
Tully spürte, wie sich Schuldgefühle in ihr regten, sie zu überwältigen drohten. Sie hätte doch spüren müssen, dass etwas nicht in Ordnung war. Warum hatte sie nicht einfach selbst zum Hörer gegriffen? Jetzt war so viel Zeit vergeudet worden. »O mein Gott. Ich hätte –«
»Das ist jetzt alles ganz unwichtig«, sagte Mrs M.
Johnny nickte und fuhr fort: »Der Krebs hat bereits metastasiert. Gestern Abend hatte sie einen leichten Schlaganfall. Natürlich sollte sie sofort operiert werden, doch während der Operation stellte sich heraus, dass man nichts mehr tun kann.« Ihm brach die Stimme.
Mrs M. legte ihre Hand auf seine. »Jetzt ist der Krebs auch in ihr Gehirn eingedrungen.«
Bislang hatte Tully gedacht, sie hätte erfahren, was Angst ist – als Zehnjährige auf der Straße in Seattle, bei Katies Fehlgeburt, bei Johnnys Verletzung im Irak –, doch das war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das sie jetzt erfasste. »Wollt ihr damit sagen –«
»Sie stirbt«, sagte Mrs M. leise.
Tully schüttelte den Kopf. Sie brachte kein Wort heraus. Schließlich fragte sie stockend: »W-wo ist sie? Ich m-muss sie sehen.«
Johnny und Mrs M. tauschten einen Blick.
»Was ist?«, fragte Tully.
»Immer nur einer darf zu ihr hinein«, erklärte Mrs M. »Im Moment ist Bud bei ihr. Ich hole ihn.«
Kaum war Mrs M. gegangen, rückte Johnny zu ihr und sagte: »Sie ist im Moment sehr schwach. Die Metastasen im Gehirn beeinträchtigen sie sehr. Sie hat zwar gute Momente … aber auch nicht so gute.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Tully.
»Dass sie dich vielleicht nicht erkennt.«
Der Weg zu Kates Zimmer kam Tully unendlich lang vor. Sie spürte zwar, dass Menschen sie begleiteten und sich leise unterhielten, doch noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Johnny brachte sie zu einer Tür und blieb dort stehen.
Tully nickte, versuchte, allen Mut zusammenzunehmen, und trat ein.
Sie schloss die Tür hinter sich, bemühte sich angestrengt, zu lächeln, und trat zum Bett, wo ihre Freundin lag und schlief.
Wie sie, gestützt auf mehrere Kissen, mehr saß als lag, wirkte sie wie eine kaputte Puppe. Sie hatte keine Haare mehr, auch keine Augenbrauen, und das Oval ihres kahlen Schädels hob sich kaum vom Weiß ihres Kissens ab.
»Kate?«, fragte Tully leise und trat näher.
Kate öffnete die Augen, und plötzlich erkannte Tully sie wieder, die Frau, das Mädchen, dem sie ewige Freundschaft geschworen hatte.
Streck die Arme aus, Katie. Es ist wie Fliegen.
Wie hatte es nur geschehen können, dass sie sich nach all den Jahren so entfremdet hatten? »Tut mir leid, Katie«, flüsterte sie und hörte, wie leicht ihr die Worte über die Lippen kamen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie diese wenigen Worte für sich behalten und fest in sich verschlossen, als könnten sie ihr schaden. Warum nur hatte sie sich ausgerechnet an die schmerzhafteste Lektion ihrer Mutter gehalten? Und warum hatte sie nicht zurückgerufen, als sie Kates Stimme auf dem Anrufbeantworter gehört hatte?
»Es tut mir so leid«, wiederholte sie und spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten.
Kate lächelte nicht und zeigte auch keinerlei Anzeichen, dass Tullys Anblick sie überraschte oder freute. Selbst ihre Entschuldigung – so spät sie auch kam, so erbärmlich sie auch war – schien keinerlei Wirkung zu zeitigen. »Bitte sag, dass du weißt, wer ich bin.«
Kate starrte sie nur an.
Tully streckte die Hand aus und strich ihr leicht über die warme Wange. »Ich bin’s, Tully, das Miststück, das sich früher deine beste Freundin schimpfte. Es tut mir so leid, Katie, was ich dir angetan habe. Das hätte ich dir schon vor langer Zeit sagen sollen.« Sie gab einen
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