Immer für dich da (German Edition)
»Du, Johnny und Mom habt mich immer so gesehen, aber ich war keine. Und jetzt ist es zu spät.«
Tully berührte ihre Freundin sachte am Handgelenk, das so dünn und zerbrechlich wirkte, als würde schon der kleinste Druck einen Bluterguss hinterlassen. »Für Marah«, sagte sie leise. »Und die Jungs. Eines Tages werden sie alt genug sein, es zu lesen. Dann werden sie wissen wollen, wer du warst.«
»Was soll ich denn schreiben?«
Das wusste Tully auch nicht so genau. »Schreib einfach auf, woran du dich erinnerst.«
Darauf schloss Kate die Augen, als wäre allein die Vorstellung schon zu viel für sie. »Danke, Tully.«
»Ich lass dich nicht mehr allein, Katie.«
Kate öffnete nicht die Augen, lächelte aber leicht. »Ich weiß.«
Kate hatte nicht bemerkt, dass sie eingeschlafen war. In der einen Minute hatte sie noch mit Tully gesprochen und in der nächsten – wachte sie in einem dunklen Zimmer auf, das nach frischen Blumen und Desinfektionsmittel roch.
Sie lag bereits so lange in diesem Zimmer, dass sie sich schon fast heimisch fühlte, und manchmal, wenn die Hoffnungen ihrer Familie zu viel für sie wurden, bot dieser kleine, beigefarben gestrichene Raum ihr mit seiner Stille Trost. Wenn sie allein war, hier, innerhalb dieser kahlen Wände, musste sie nicht mehr so tun, als wäre sie stark.
Doch in diesem Moment wollte sie nicht hier sein. Sie wollte zu Hause sein, in ihrem eigenen Bett. Sie wollte in den Armen ihres Mannes liegen, anstatt ihm zuzusehen, wie er im Nachbarbett schlief. Oder mit Tully an einer Böschung am Pilchuck River sitzen, Süßigkeiten naschen und über das neueste Album von David Cassidy sprechen.
Bei der Erinnerung musste sie lächeln, und das linderte die Angst, die sie geweckt hatte.
Sie wusste, ohne Schmerzmittel würde sie nicht wieder einschlafen, doch sie wollte die Nachtschwester nicht wecken. Außerdem war ihr nur noch kurze Zeit geblieben, was sollte sie also schlafen?
Solch morbide Gedanken kamen ihr erst in den letzten Wochen. Vorher hatte sie alles getan, was man von ihr erwartete – seit dem Tag ihrer Diagnose, den sie nur als D-Day bezeichnete –, und zwar mit einem Lächeln. Den anderen zu Gefallen.
Chirurgie – Gerne, schneiden Sie mich auf und nehmen Sie mir meine Brüste weg.
Radiologie – Aber bitte doch: Verbrennen Sie mich.
Chemotherapie – Bitte noch eine Dosis Gift.
Tofu und Misosuppe – Lecker, kann ich noch nachhaben?
Kristalle. Meditation. Visualisierung. Traditionelle chinesische Medizin.
Sie hatte alles versucht und war mit Feuereifer bei der Sache gewesen. Und was noch wichtiger war: Sie hatte daran geglaubt. Sie hatte wirklich geglaubt, sie würde geheilt werden.
Die Anstrengung hatte sie erschöpft, die enttäuschte Hoffnung sie gebrochen.
Sie seufzte und rieb sich die Augen. Dann knipste sie die Nachttischlampe an. Johnny, der sich an ihren unregelmäßigen Schlaf-wach-Rhythmus gewöhnt hatte, drehte sich zu ihr und fragte verschlafen: »Ist alles in Ordnung, Schatz?«
»Mir geht’s gut. Schlaf weiter.«
Er murmelte etwas Unverständliches und rollte sich wieder auf die Seite. Kurz darauf hörte sie ihn leise schnarchen.
Sie langte nach dem Tagebuch, das Tully ihr geschenkt hatte. Sie hielt es fest und fuhr mit dem Finger über die Prägung des Leders, den goldenen Buchschnitt.
Es würde schmerzen, darüber war sie sich im Klaren. Es würde schmerzen, einen Stift zu nehmen und ihr Leben zu Papier zu bringen. Sie würde sich an alles erinnern müssen; daran, wer sie war und wer sie hatte sein wollen. Die Erinnerungen würden weh tun, sowohl die guten als auch die schlechten.
Aber ihre Kinder würden sie sehen können, nicht nur ihre Krankheit, die Frau, an die sie sich immer erinnern würden, obwohl sie kaum Zeit gehabt hatten, sie kennenzulernen. Tully hatte recht. Das einzige Geschenk, das sie ihnen nun noch machen konnte, war die Wahrheit über sich selbst.
Sie schlug das Tagebuch auf. Da sie keine Ahnung hatte, wo sie ansetzen sollte, fing sie einfach an zu schreiben.
Die Panik schlägt immer gleich zu. Zuerst ist es nur ein Knoten in meiner Magengrube, der mir Übelkeit verursacht, dann aber wird sie zu einer zittrigen Kurzatmigkeit, bei der kein noch so tiefes Atemholen hilft. Dabei sind die Auslöser täglich andere, ich weiß vorher nie, was mich in Panik versetzt. Mal ist es ein Kuss von meinem Mann, mal sein trauriger Blick, wenn er sich von mir löst. Manchmal weiß ich, dass er bereits um mich
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