Immer für dich da (German Edition)
Jean Enersen werden.
Diese Worte – die nächste Jean Enersen – waren ihr Mantra geworden, ihr Geheimcode, der ihren großen Traum barg und möglich erscheinen ließ. Die Saat, die so lange zuvor in der Küche im Haus der Mularkeys gelegt worden war, war wild gewuchert und hatte tiefe Wurzeln in ihr Herz gegraben. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie einen Traum brauchte, doch er hatte sie verändert, aus der armen, von der Mutter im Stich gelassenen Tully ein Mädchen gemacht, das es mit der ganzen Welt aufnehmen wollte. Dieses Ziel ließ ihre traurige Lebensgeschichte belanglos erscheinen und gab ihr etwas, auf das sie hinarbeiten, an dem sie sich festhalten konnte. Mrs Mularkey war stolz auf sie, das wusste sie aus den Briefen. Außerdem wusste sie, dass Kate denselben Traum hatte. Sie beide würden zusammen Reporterinnen werden, Storys nachjagen und sie niederschreiben. Als Team.
Als sie jetzt auf dem Bürgersteig stand und auf das Gebäude vor sich starrte, kam sie sich vor wie ein Bankräuber, der sich Fort Knox ansieht.
Überraschenderweise war die ABC-Zweigstelle trotz der Größe und Bedeutung des Fernsehsenders in einem kleinen Gebäude in der Innenstadt untergebracht. Es war weder besonders imposant, noch hatte es eine beeindruckende Glasfensterfront oder teure Kunstwerke an den Wänden der Eingangshalle. Es gab nur einen L-förmigen Empfangstisch, eine leidlich hübsche Empfangsdame und drei senfgelbe Plastikstühle für die Wartenden.
Tully holte tief Luft, straffte die Schultern und trat ein. Am Empfangstisch nannte sie ihren Namen und nahm auf einem der Stühle Platz. Als sie dann endlos auf ihr Vorstellungsgespräch warten musste, achtete sie darauf, weder zu zappeln noch mit dem Fuß zu wippen.
Man wusste ja nie, wer zusah.
»Miss Hart?«, sagte die Empfangsdame schließlich und blickte zu ihr. »Er möchte Sie jetzt sprechen.«
Tully warf ihr ein selbstbewusstes, kamerareifes Lächeln zu und stand auf. »Danke.« Dann folgte sie der Empfangsdame in einen weiteren Wartebereich.
Dort stand bereits der Mann, dem sie seit nahezu einem Jahr wöchentlich geschrieben hatte.
»Hallo, Mr Rorbach.« Sie gab ihm die Hand. »Ich freue mich sehr, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
Er wirkte müde und älter, als sie erwartet hatte. Auf seinem glänzenden Schädel wuchsen nur noch spärlich rötlich graue Haare. Sein hellblauer Anzug hatte weiße Ziernähte. »Dann kommen Sie mal mit, Miss Hart.«
»Mrs Hart«, korrigierte sie. Es war immer besser, es von Anfang an richtig zu machen. Gloria Steinem hatte mal gesagt, Respekt würde einem nur gegeben, wenn man ihn verlangte.
Mr Rorbach sah sie blinzelnd an. »Wie bitte?«
»Ich möchte Mrs Hart genannt werden, wenn Sie nichts dagegen haben, was sicher nicht der Fall ist. Denn wie könnte sich jemand, der am Georgetown-College seinen Abschluss in englischer Literatur gemacht hat, gegen Veränderungen sperren? Ich bin sicher, Sie sind, was die sozialen Umwälzungen betrifft, auf dem neuesten Stand. Das sehe ich an Ihren Augen. Übrigens gefällt mir Ihre Brille.«
Er starrte sie kurz mit leicht offen stehendem Mund an, bevor ihm wieder einfiel, wo er war. »Folgen Sie mir, Mrs Hart.« Er führte sie durch den nüchtern weißen Flur zur letzten Holzimitattür auf der linken Seite und öffnete sie.
Er hatte ein kleines Eckbüro mit einem Fenster, durch das man direkt auf einen der Betonpfeiler der Schwebebahn blickte. Die Wände waren vollkommen kahl.
Tully setzte sich auf den Klappstuhl vor seinem Schreibtisch.
Mr Rorbach nahm ebenfalls Platz und starrte sie an. »Einhundertundzwölf Briefe, Mrs Hart.« Er klopfte auf den dicken Aktenordner, der vor ihm lag.
Er hatte all die Briefe aufbewahrt, die sie ihm geschrieben hatte. Das war ein gutes Zeichen. Sie holte ihren neuesten Bericht aus der Tasche und legte ihn auf den Schreibtisch. »Wie Sie sicher bemerkt haben, hat die Schulzeitung meine Artikel wiederholt auf der Titelseite gebracht. Hier habe ich nun einen Hintergrundbericht über das Erdbeben in Guatemala, einen Artikel über die neuesten Entwicklungen bei Karen Ann Quinlan und eine herzzerreißende Reportage über die letzten Tage von Freddie Prinze. Die werden Ihnen sicher ein Bild meiner Fähigkeiten vermitteln.«
»Sie sind siebzehn Jahre alt.«
»Ja.«
»Im nächsten Monat beginnen Sie mit der Senior High.«
Die vielen Briefe hatten ihren Zweck erfüllt. Er wusste alles über sie. »Genau. Übrigens bin ich der
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