Immer für dich da (German Edition)
grauen Norwegerpullover und einer pyjamaähnlichen Hose sah sie aus, als wäre sie aus einem Frauengefängnis geflüchtet. Die Jahre hatten ihrer einstigen Schönheit arg zugesetzt und ein Netz feiner Linien auf ihren eingefallenen Wangen hinterlassen.
»Hey, Cloud«, sagte Tully, als sie zu ihr trat.
Ihre Mutter betrachtete sie aus halbgeschlossenen Augen.
Jetzt sah Tully noch deutlicher, wie sehr die Drogen ihre Mutter hatten altern lassen.
»Ich war hier für die KCPO-Nachrichten unterwegs.« Tully versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz sie war, denn sie wusste, es war dumm, etwas von ihrer Mutter zu erwarten. Und dennoch, ein Schatten des bemitleidenswerten Mädchens, das zwölf Poesiealben vollgeschrieben hatte, damit ihre Mutter sie kennenlernen und stolz auf sie sein konnte, war immer noch sichtbar. »Meine allererste Sendung. Ich hab dir doch gesagt, dass ich eines Tages ins Fernsehen kommen würde.«
Cloud schwankte leicht hin und her, als bewegte sie sich zu einer Musik, die nur sie allein hören konnte. »Fernsehen ist das Opium der Massen.«
»Tja, mit Drogen kennst du dich ja aus.«
»Wo wir schon davon sprechen, ich bin diesen Monat ein bisschen klamm. Hast du Geld dabei?«
Tully holte aus dem Portemonnaie die fünfzig Dollar, die sie immer für Notfälle dabeihatte, und reichte sie ihr. »Aber gib nicht alles nur einem Dealer.«
Cloud trat unbeholfen zu ihr und nahm das Geld.
Tully wünschte, sie wäre nicht gekommen. Sie wusste doch, dass sie von ihrer Mutter gar nichts zu erwarten hatte. Warum vergaß sie das immer wieder? »Ich schick dir Geld für die nächste Entziehungskur, Cloud. Schließlich hat jede Familie ihre Traditionen, stimmt’s?« Nach dieser Bemerkung drehte sie sich um und ging zum Wagen zurück.
Mutt wartete auf sie. Er drückte seine Zigarette aus und grinste Tully entgegen. »Na, war Mommy stolz auf ihr College-Mädchen?«
»Das kann man wohl sagen.« Tully grinste zurück und wischte sich über die Augen. »Sie hat geweint wie ein Baby.« Kaum waren Tully und Mutt zurück in der Redaktion, wurde auf Hochdruck gearbeitet. Alle vier zwängten sich in den Schnittraum und verwandelten sechsundzwanzig Minuten Rohmaterial in einen ausgewogenen Beitrag von dreißig Sekunden. Kate versuchte, sich nur auf die Story zu konzentrieren, doch das Essen mit Johnny hatte ihre Sinne getrübt – oder geschärft, sie wusste es nicht.
Als sie fertig waren, rief Johnny den Sendeleiter in Tacoma an. Er sprach kurz mit ihm, legte dann auf und sah Tully an. »Wenn nichts dazwischenkommt, wird es heute Abend um zehn gesendet.«
Tully sprang auf und klatschte in die Hände. »Wir haben es geschafft!«
Kate verspürte einen Anflug von Eifersucht. Nur einmal sollte Johnny sie so ansehen, wie er jetzt Tully ansah.
Wenn sie nur so gewesen wäre wie ihre Freundin: selbstbewusst, sexy und entschlossen, sich alles – und jeden – zu nehmen, nach dem ihr war. Dann hätte sie vielleicht eine Chance gehabt, aber der Gedanke an Johnnys Zurückweisung, an sein verwirrtes »Was?« ließ sie im Schatten verharren.
Genauer gesagt: in Tullys Schatten. Wie immer war Kate die Backgroundsängerin, die niemals ins Scheinwerferlicht trat.
»Das muss gefeiert werden«, verkündete Tully. »Ich spendiere das Abendessen.«
»Ohne mich«, sagte Mutt. »Darla wartet auf mich.«
»Ich kann auch nicht mitessen, aber wie wäre es mit einem Drink um neun?«, schlug Johnny vor.
»Auch gut«, antwortete Tully.
Kate wusste, dass sie absagen sollte. Das Letzte, was sie jetzt noch wollte, war, mit den beiden an einem Tisch zu sitzen und zu beobachten, wie Johnny Tully beobachtete – doch hatte sie eine Wahl? Sie war Tullys zweite Hälfte. Und wohin Tully ging, ging auch sie, selbst wenn es ihr das Herz zerriss.
Kapitel 13
V on Tullys erstem eigenem Fernsehbeitrag an änderte sich alles. Sie wurden die »Phantastischen vier«: Kate und Tully, Mutt und Johnny. Zwei Jahre lang waren sie ständig zusammen, arbeiteten in der Redaktion oder wanderten von Ort zu Ort, immer auf der Suche nach der richtigen Story. Tullys zweite Sendung handelte von einer Schnee-Eule, die auf einer Straßenlampe in Capitol Hill ihr Lager aufgeschlagen hatte. Als die ersten Microsoft-Millionäre in mintgrünen Ferraris durch die Innenstadt fuhren und mit überdimensionalen Kopfhörern elektronische Musik hörten, wusste jeder bei KCPO, dass Tully nicht mehr lange für den kleinsten Lokalsender arbeiten würde.
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