Immer für dich da (German Edition)
aufgestellt.
Es stellte sich jedoch heraus, dass die »Menge«, die sich zum Prostest formiert hatte, nur aus zehn Leuten bestand, die Schilder hochhielten und miteinander plauderten. Das Ganze erinnerte eher an einen Kaffeeklatsch – allerdings nur, bis die Ü-Wagen auftauchten. Dann begannen sie, zu marschieren und Parolen zu rufen.
»Ah«, meinte Mutt. »Die Macht der Medien.« Er hielt am Straßenrand und wandte sich zu Tully.
»So, jetzt eine Lektion, die du nicht im College lernst: Misch dich unters Volk. Geh mitten hinein. Wenn es so aussieht, als würde es zu Ausschreitungen kommen, möchte ich, dass du dortbleibst, klar? Stell einfach deine Fragen und red weiter. Aber wenn ich dir ein Zeichen gebe, verschwinde, so schnell du kannst.«
Tullys Herz begann, schneller zu schlagen, als sie sich daranmachte, seinen Rat zu befolgen.
Die Demonstranten kamen zu ihnen geströmt. Alle redeten gleichzeitig auf sie ein, stießen sich beiseite, um ihren Standpunkt darzulegen.
Mutt schob Tully nach vorne. Sie stolperte vorwärts und hatte plötzlich die Brust eines riesigen, massigen Mannes mit langem weißem Bart vor sich, der ein Schild mit der Aufschrift Schluss mit dem Spuk trug.
»Ich bin Tallulah Hart von KCPO. Warum sind Sie heute hier?«
»Frag nach seinem Namen«, brüllte Mutt.
Tully zuckte zusammen. Mist.
Der Mann antwortete: »Ich bin Ben Nettleman. Meine Familie und ich leben seit fast achtzig Jahren in Yelm und möchten nicht, dass es sich zu einer Art Mekka für New-Age-Verrückte entwickelt.«
»Dafür können sie doch nach Kalifornien!«, rief jemand.
»Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Heimatort«, bat Tully.
»Yelm ist ein ruhiges Plätzchen, wo die Leute sich noch um einander kümmern. Wir beginnen jeden Tag mit einem Gebet und scheren uns eigentlich nicht darum, was die Nachbarn so treiben … es sei denn, sie fangen an, Häuser aus dem Boden zu stampfen und Busladungen von Verrückten hierherzulocken.«
»Und Sie sagen ›Verrückte‹, weil –«
»Sind sie auch! Diese Dame da behauptet, sie hätte einen Toten aus Atlantis hierhergechannelt.«
Die nächsten zwanzig Minuten tat Tully das, was sie am besten konnte: Sie redete mit Menschen. Nach sechs, sieben Minuten hatte sie in ihre Aufgabe gefunden und setzte um, was sie gelernt hatte. Sie hörte zu und stellte die Fragen, die sie auch sonst gestellt hätte. Sie wusste zwar nicht, ob das die richtigen Fragen waren oder ob sie auch immer korrekt stand, aber nach ihrem dritten Interview war sie sich auch in dieser Hinsicht sicher, denn von da ab korrigierte Mutt sie nicht mehr, sondern ließ sie einfach machen. Und sie spürte, dass es sich gut anfühlte. Die Menschen öffneten sich ihr gegenüber und teilten ihr ihre Gefühle, Ängste und Sorgen mit.
»Okay, Tully«, sagte Mutt hinter ihr. »Das war’s. Wir sind fertig.«
Kaum war die Kamera aus, ging die Menge auseinander.
»Ich hab’s geschafft«, flüsterte Tully. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, nicht wie verrückt herumzuhüpfen. »Das ist der Durchbruch.«
»Das hast du gut gemacht«, meinte Mutt und schenkte ihr ein Lächeln, das sie nie mehr vergessen würde.
Mutt packte seine Sachen zusammen und stieg in den Wagen.
Tully konnte sich immer noch nicht beruhigen.
Da sah sie plötzlich das Campingplatz-Schild.
»Bieg hier ab«, forderte sie Mutt auf und überraschte sich selbst damit.
»Wieso?«, fragte Mutt.
»Meine Mom … macht hier Urlaub. Sie wohnt auf dem Campingplatz. Ich wollte mal kurz vorbeischauen.«
»Dann mach ich ’ne Zigarettenpause. Fünfzehn Minuten. Dann müssen wir zurück an die Arbeit.«
Der Wagen hielt vor der Anmeldung des Campingplatzes. Tully ging hinein und fragte nach ihrer Mutter. Der Angestellte nickte. »Platz sechsunddreißig. Und richten Sie ihr aus, dass die Platzmiete fällig ist.«
Als Tully dem Pfad folgte, überkam sie ein Dutzend Mal der Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen. Offen gestanden, hatte sie keine Ahnung, was sie hier eigentlich wollte. Seit Granmas Beerdigung hatte sie nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen, und obwohl sie mit achtzehn zur Nachlassverwalterin von Granmas Erbe geworden und damit verantwortlich für die monatlichen Zahlungen an Cloud war, hatte sie nicht einmal einen Dankesbrief von ihr bekommen. Nur in regelmäßiger Folge Karten mit neuen Adressen. Dieser Campingplatz in Yelm war die letzte.
Sie entdeckte ihre Mutter bei den Toilettenwagen. Sie rauchte, und mit ihrem grobgestrickten
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