Immer Schön Gierig Bleiben
Gesichter der Opfer, ein Schandfleck im Antlitz einer demokratischen und weltoffenen Stadt. Das wird man ja wohl sagen dürfen. Dann der nächste Schritt – ein Zeitzeuge des 17. Juni klagt an: Dieses Gebäude wurde geschaffen, um die Spuren der Verbrechen zu vertuschen. Wie kann man in einem Gebäude abtanzen bis in die frühen Morgenstunden, wenn hier die Freiheit mit Füßen getreten wurde? Und man hat Glück. Die Bezirkslinke redet von Pogromstimmung gegen Baudenkmäler des anderen deutschen Staates. Jemand nennt das eine Bagatellisierung der Reichskristallnacht. Dabei kommt Pogrom aus dem Russischen, hätte sogar gepasst in diesem Fall. Jedenfalls, mittlerweile ist die Sache so heiß, dass sich keiner mehr die Finger daran verbrennen möchte. Eine Kommission soll entscheiden, aber erst nach den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Dem Käufer, der sein Konzept gern weiterentwickelt hätte, geht in der Zwischenzeit finanziell die Puste aus, zumal dieses hässliche Gerücht aufkommt, er hätte was mit Geldwäsche zu tun. Das bestätigt sich letztendlich nicht, aber er steigt aus. Vielleicht ist er auch klug und will seinem ranzig gewordenen Geld kein gutes mehr nachschießen.
Und plötzlich suchen alle händeringend nach einem Konzept. Nichts leichter als das: Es liegt in meiner Schublade, seit der Artikel über den 17. Juni lanciert wurde.
Café Tokio
. Mit Büros für die wichtigsten japanischen Wirtschaftsverbände, einer Galerie, einem Buchladen mit einer Manga-Abteilung. Dazu ein Studio für Animationsfilme mit der Möglichkeit, dass Videokünstler dort für einige Monate arbeiten. Videokünstler sind genügsame Menschen, das zahlt der Investor aus der Portokasse. Aber nur die ersten zwei Jahre, dann hat der Senat die Stipendien an der Backe. Außerdem gibt es eine typische japanische Bar. Mit diesem übermenschlichen Sinn für Raumaufteilung und Sake, den Liter für tausend Euro. Und ein Sushi-Restaurant, ein Rolling-Sushi-Restaurant. Das dann quasi mein zweiter Wohnsitz wurde. Aber deswegen habe ich das nicht alles veranstaltet. Die Gegend wurde aufgewertet, die Bar ist eine Drehscheibe für Geschäftskontakte geworden, und die russischen Mädchen gehen einfach woanders tanzen.
Dann kam der Moment zu gehen. Ohne Hast lief ich hinaus in den Hof, als wollte ich dort eine rauchen. Ich wollte das Gelände schon verlassen, als links und rechts zwei Streifenwagen vorfuhren. Also ging ich dorthin, wo mich keiner suchen würde. Ich stieg in eine der großen Mülltonnen und vergrub mich in Fischabfällen. In so eine fahrbare Tonne passen tausendeinhundert Liter, genug Platz für eine kleine Rast.
Und jetzt liege ich hier seit sieben Stunden und arrangiere mich mit den Verhältnissen. Mein Geruchssinn nimmt schon lange nichts mehr wahr. Ein Polizist hat in die Mülltonne hineingesehen, als sie den Hof durchsucht haben. Ein Kraftpaket mit einem erstaunlich tumben Gesichtsausdruck. Natürlich hat er die Fischabfälle nicht durchwühlt. Der Umstand, dass
er
sich dort nicht hineinbegeben würde, reicht ihm aus, um die Mülltonne als Versteck auszuschließen. Aber er musste ja auch nicht kürzlich einen rechtswidrigen Angriff auf seine berufliche Existenz abwehren.
Was man aus so einer Mülltonne alles machen könnte. Kleine gemütliche Einraumwohnung für Bastler. Schnäppchen für die handwerklich begabte Mutti. Perfekt für Alleinerziehende mit einem Kind mit Lichtallergie.
Nach dieser Nacht könnte ich bei
Wetten, dass..?
auftreten. Wetten, dass ich verdorbenen Fisch am Geruch erkennen kann. Live vom Hamburger Fischmarkt. Gottschalk lässt sich reaktivieren und kommt aus L. A. vorbei, um diese Sensationswette persönlich zu moderieren. Das ZDF-Aufnahmeteam geht an seine olfaktorischen Grenzen. Und mittendrin ich, schlagfertig und witzig. Dabei bin ich gar nicht so der redselige Typ. Ich muss mich ausruhen, mein Weg in die Freiheit ist noch nicht zu Ende.
Pachulke, Zabriskie und Dorfner waren in das Rolling Sushi gestürmt, während zeitgleich Streifenwagen das Gelände umzingelt hatten.
Sie sprachen mit dem Oberkellner. Ja, ein Mann, auf den die Beschreibung von Carsten Meier zutraf, sei hier gewesen. Ja, er komme oft, mehrmals in der Woche. Nein, er sei immer allein. Nein, wann er gegangen sei, wisse er nicht. Er deutete auf den Gastraum, der dicht besetzt war. Auch die anderen Kellner wussten nicht, wann Carsten Meier gegangen war. Er war seit Jahren Stammgast und hatte nie seinen Namen genannt, nie einen
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