Immer Schön Gierig Bleiben
Woche war eine Frau in ihrer Wohnung überfallen worden. Sie war zweiundneunzig Jahre alt gewesen. Der Täter hatte sie in ihrer Küche umgeschubst, weil sie ihn nicht an ihr Küchenbüfett lassen wollte, wo der Täter die Geldbörse vermutete. Sie war mit dem Kopf gegen die gemauerte Kochmaschine geknallt und nach einer Nacht im Krankenhaus an einer Gehirnblutung gestorben. Der Täter hatte 24,76 Euro erbeutet, denn die Frau hatte an diesem Tag ihren Wocheneinkauf erledigt und fast kein Bargeld mehr im Haus gehabt. Die Frau hatte keine Verwandten. Es war nicht Sache der Polizei, den Hausrat von Getöteten sinnvoll unter die Leute zu bringen. Die Tafel nahm keine Sachspenden von Privatleuten an. Jetzt mussten Lebensmittel für mehr als sechzig Euro weggeworfen werden.
Der Täter hatte es bis zur übernächsten Eckkneipe geschafft. Dort hatte er eine Flasche Wodka gekauft und dadurch sein frisch erworbenes Barvermögen halbiert. Nachdem er die Flasche geleert hatte, war er in ein wölfisches Geheul ausgebrochen. Er war auf die Straße gerannt und hatte die leere Wodkaflasche auf dem Bürgersteig zerschlagen. Ein vorbeikommender Streifenwagen hatte angehalten, und der Mann hatte die Beamten zu der Wohnung der Frau geführt. Das würde in einem Prozess sicherlich zu seinen Gunsten Berücksichtigung finden. Allerdings sprach es gegen ihn, dass er mit dem Saufen erst begonnen hatte, nachdem er die Frau umgeschubst hatte. Pachulke mochte diese Leute nicht, ob nüchtern oder besoffen. Sie mussten gefunden und bestraft werden.
Für Pachulke war ein Krimineller nicht der ganz andere. Kein Mensch hielt sich rund um die Uhr an alle Gesetze. Ein Jugendlicher, der ein Auto klaute, brachte Menschen in Gefahr und kränkte den Fahrzeughalter, vielleicht mehr, als wenn er dessen Kind entführt hätte. Aber meistens war das Auto wieder da oder wurde mehr oder weniger unversehrt gefunden. Die Tötung eines Menschen dagegen war eine ungeheuerliche Anmaßung und blieb irreversibel.
Pachulke schlug die Akte auf. Eine sehr junge Frau, neunzehn Jahre alt. Jetzt wäre sie einunddreißig, immer noch jung. Innen im Aktendeckel fand sich die übliche Liste der in der Akte befindlichen Dokumente, ganz oben war der Abschlussvermerk.
Melanie Schwarz war am 24. Juni 2001 um 6.17 Uhr morgens auf einem unbebauten Grundstück in Moabit tot aufgefunden worden. Keine zweihundert Meter entfernt von dem Frauenwohnheim, in dem sie lebte. Ein Obdachloser hatte sie gefunden, am frühen Sonntagmorgen. Sie lag auf einem Stapel Betonplatten, die Hände auf dem Brustkorb zusammengefaltet. Es gab keine Spuren sexueller Gewalt, und sie war frisch geschminkt, das heißt, ihr Make-up, das sie den ganzen Tag über getragen hatte, war fachkundig erneuert worden. Lidschatten auf Lidschatten, Lippenstift auf Lippenstift. Sie hatte als Kellnerin in einem Restaurant am Hackeschen Markt gearbeitet. In einem Irish Pub, der The Swan hieß.
Pachulke öffnete den Umschlag mit den Fotos der Obduktion. Er sah die geschlossenen Augen mit dem aufgetragenen Lidschatten und den Resten von Kajal. Er sah die kräftigen Arme, die bis nachts um zwei Uhr Tabletts und Flaschen geschleppt hatten, auf der Unterseite die dunklen Schatten der Leichenflecke. Die Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln, die Wechselgeld aus dem Portemonnaie abgezählt hatten und unter denen sich keinerlei Spuren von Hautpartikeln, Haaren oder Fasern des Täters gefunden hatten, weil Melanie Schwarz völlig überrascht worden war.
Ein kräftiger Schlag an die rechte Seite ihres Kopfes hatte gereicht. Dass sie danach noch auf eine Betonkante aufgeschlagen war, hatte nichts mehr verschlimmert. Der eine Schlag war tödlich gewesen. Er hatte eine Kerbe über dem Ohr hinterlassen. Für einen Schlagring war die Kerbe zu schmal, für einen Hammer zu lang und zu schwach. Die Schädelknochen waren geborsten, nicht zertrümmert. Es war damals nicht möglich gewesen, die Tatwaffe zu bestimmen, einer der Gründe, warum der Fall unaufgeklärt geblieben war. Zusammen mit den fehlenden DNA-Spuren und den fehlenden Tatzeugen.
Die Tote stammte aus einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Sie war gerade erst in die Stadt gezogen, für einen Sommerjob vor dem Beginn des Studiums. Die anderen jungen Frauen im Wohnheim kamen und gingen, die Gäste im Pub kamen und gingen. Melanie Schwarz hatte keinen festen Freundeskreis. Um einer Beziehungstat zum Opfer zu fallen, hätte sie Beziehungen gebraucht. Es gab aber nur
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