Immer Schön Gierig Bleiben
schielen, dass ich auf der Bühne ohnmächtig werde
. Denn genau das hat sie getan. Erst hat sie alle anderen Frauen weggezickt von der Rolle. Das ganze Programm: schmachten, schmollen, schleimen, schluchzen, stänkern. Und als sie sich die Rolle gekrallt hatte, war sie so nervös, dass sie schielend und mit Äh und Ach angewurzelt dastand und bei der Abschlussprobe in Ohnmacht fiel. Sie wusste nicht, was sie wollte, und bei Maeve war das nicht anders. Meine Lehren aus dieser Episode: Erstens darf man nicht nervös sein, wenn man Großes vorhat. Das gilt für den Abriss eines denkmalgeschützten Wohnblocks ebenso wie für das klärende Gespräch mit dieser Verena. Zweitens passieren die wichtigsten Dinge dann, wenn man am wenigstens damit rechnet. Beides galt für meine erste Reise in die große Stadt und für meine Begegnung mit Maeve.
Eigentlich hieß sie Melanie, glaube ich, aber ich finde, Maeve passte viel besser zu ihr. Ich bin mir fast sicher, dass sie Maeve hieß. In solchen Situationen wäre es gut, man hätte ein Tagebuch geführt, aber mir fehlt die innere Ruhe, und den Drang zur privaten Selbstdarstellung habe ich auch nicht. Mir reicht die monatliche Abrechnung meiner MasterCard. Da sind die wichtigen Ereignisse tabellarisch zusammengefasst. Maeve. Sie war Kellnerin in einem Irish Pub am Hackeschen Markt. Wir wollten heiraten. Sie hatte rote Haare:
Fair Erin’s Daughter
.
Im Juni 2001 fuhr unsere Theatergruppe zu einem internationalen Studenten-Theaterfestival, einmal quer durch die Republik vom lieblichen Südwesten in den trutzigen Rest von Preußen, diese atemberaubende, halbverrottete Stadt. Erst wollte ich unbedingt mal hin, dann wollte ich nicht mehr weg, jetzt bin ich schon eine Weile hier. Ein Generationenschicksal.
Das Theaterfestival fand in der Hochschule der Künste statt, und ich mit meinem Schminkkoffer im Rucksack immer mittenmang dabei. Eine kleine Rolle habe ich auf der Bühne auch gespielt, nicht der Rede wert. Vor allem war ich der Mann für die Maske.
Die Abschlussparty fand im Garten der HdK und den Räumen im Erdgeschoss statt. Da spielten Bands mitten zwischen Bäumen und Hecken, da wurden Kurzfilme gezeigt, Plakate und Skulpturen waren ausgestellt, die Zeit wurde einem nicht lang. Es gab Wein, WLAN und Gesang. Das WLAN-Lan war eine Sensation gewesen damals, eine ganze Hochschule
wireless
.
Ein Professor für Medientheorie stand am Grill und versengte sich die buschigen grauen Augenbrauen, während er Würstchen, Nackensteaks und Zucchini wendete. Die Würstchen waren alle ein wenig verbrannt und die Zucchini alle ein wenig versalzen. Schon damals war mir die asiatische Küche lieber als die italienische: filigraner, delikater. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn mich die versalzenen Zucchini nicht zu jenem Getränkestand geführt hätten. Dort habe ich Maeve zum ersten Mal gesehen. Sie stand vor mir in der Schlange und redete mit einer anderen Frau. Ich hörte ihre Stimme, bevor ich ihr Gesicht sah. Von hinten sah ich ihr kurzgeschnittenes Haar, das in einem seltsamen Wirbel auslief, der bei jeder ihrer Kopfbewegungen wippte wie ein Entenschwänzchen. Ihre Schultern, die sich unter den Spaghettiträgern ihres leichten Sommerkleides mit Blumendruck hoben und senkten – ich war hingerissen. Die beiden Frauen kamen an die Reihe, und ich sah sie im Profil, ihre Wangenknochen, ihren Mund, der Worte formte, die den Bierverkäufer lächeln ließen. Sie zahlten und gingen.
»Ein Bier, bitte«, sagte ich und gab dem Mann am Getränkestand einen Fünfzig-Mark-Schein. Maeve drehte sich kurz um. Unsere Blicke trafen sich. Sie hob ihre Flasche zum Gruß und sagte: »Ich hoffe, der lange Weg hierher hat sich gelohnt für dich. Ich hoffe, du erlebst eine unvergessliche Zeit.« Ich wollte etwas sagen, aber der Wicht, der den Bierstand machte, lenkte mich ab. Er fragte: »Hast du’s nicht ein bisschen kleiner?«
Ich sagte: »Wenn du hier Bier verkaufen willst, musst du dich um dein Wechselgeld selbst kümmern.« Also ging der Wicht davon, und als ich aufsah, war Maeve verschwunden.
Eine unvergessliche Zeit
. Ich fragte mich, wie sie das gemeint haben könnte. In der Stadt? Auf dem Fest? Mit ihr? Der Kerl vom Bierstand blieb lange weg, und als er wiederkam, zählte er mir mühsam und umständlich das Wechselgeld in die Hand. Ich stopfte die vielen Münzen in meinen Rucksack, in dem ich auch mein Schminkzeug, meinen Pullover und den Schlüssel von unserer
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