Immer verlasse ich dich
sie erneut ein.
»Hi«, sagt Kip. »Was gibt’s?«
»Versprich mir, daß du mich niemals
verlassen wirst«, befehle ich.
»Was ist denn los, Liebes?«
»Versprich es einfach.«
»Na schön, ich verspreche es.«
»Ich glaube dir nicht«, sage ich.
Sie seufzt. »Was kann ich tun, damit du
mir glaubst, Lauren?«
»Was ist, wenn du krank wirst und
zuerst stirbst?«
»Dann werde ich dich wohl verlassen«,
sagt sie.
»Siehst du? Wie kann ich dir glauben?«
Geduldig sagt Kip: »Wie wär’s damit:
Ich verspreche dir, dich nicht zu verlassen, es sei denn, ich sterbe.«
»Das gefällt mir nicht.«
»Etwas Besseres kann ich dir nicht
anbieten.«
Ich denke darüber nach, und mir wird
klar, daß sie recht hat. Sie kann unmöglich versprechen, daß sie nicht als
erste sterben wird. »Wenn du zuerst stirbst«, sage ich, »dann bringe ich dich
um. Tschüs.«
Das Telefon läutet.
»Lauren? Liebes?«
»Was ist?« Inzwischen habe ich mich in
die Vorstellung hineingesteigert, daß sie mich jeden Augenblick verlassen wird.
»Du klingst so zornig«, sagt sie. »Ich
verlasse dich nicht, ich verspreche es. Und ich habe nicht die Absicht, in
nächster Zeit zu sterben.«
»Hatte Meg auch nicht.«
»Ich weiß, Liebes.«
Wir erwähnen Tom nicht, aber ich weiß,
daß wir beide an ihn denken. Nun komme ich mir egoistisch vor. Arme Kip. Wie
konnte ich gerade heute meine Unsicherheit bei ihr abladen. Schließlich hat sie
den Morgen damit zugebracht zu beobachten, wie ihr Bruder um sein Leben ringt?
»Es tut mir leid, Kip.«
»Ist schon gut. Willst du mal raten,
was das Thema einer der heutigen Talkshows ist?«
»Was denn?«
»Schönheitsoperationen, die
fehlgeschlagen sind! Kannst du dir vorstellen, daß sie diese entstellten Leute
über eine Bühne marschieren lassen? Schäbig ist dafür gar kein Ausdruck mehr.«
»In welcher Show?«
»Spielt das eine Rolle? Ich weiß nicht,
ob ich weiter in diesem Land leben kann, Lauren.«
»Siehst du, du bereitest dich darauf
vor, wegzugehen.«
»Hör auf damit. Trink deinen Kaffee aus
und iß dein Schokoplätzchen und mach dich an die Arbeit.«
»Woher weißt du, daß ich ein
Schokoplätzchen esse?«
»Ich habe meine Mittel und Wege.« Ich
kann hören, daß sie lächelt.
»Das ist ja grauenhaft.«
»Ich würde mich ja gern weiter mit dir
unterhalten, aber mein nächster Patient ist da. Versuch daran zu denken, daß
ich niemals auswandere und wir uns später sehen.«
Zwei nutzlose Telefongespräche. Ich
fühle mich kein bißchen besser, kein bißchen sicherer, wenn ich auch zugeben
muß, daß sie mich wirklich nur einmal verlassen wird — wenn sie stirbt. Ich
glaube nicht, daß sie mich für eine andere im Stich läßt.
Ich kann mir mein Leben ohne Kip nicht
vorstellen. Wer würde mich trösten, sich meine Geschichten mehr als einmal
anhören, Liebe mit mir machen, wie sie es tut? Und wer sonst wüßte übers
Telefon genau, was ich gerade esse? Niemand. Sie soll gefälligst dableiben.
Meg hatte drei Angestellte: Mary Jane
Vineburgh, Julie Fisher und Lorry Stone. Keine von ihnen war zum Zeitpunkt des
Mordes zugegen, alle haben Alibis. Dennoch kommt mir der Gedanke, daß eine oder
auch alle drei wissen könnten, was Meg vorhatte, was sich in den beiden Kartons
befand. Ich habe sie gebeten, sich im Caffe Degli Artisti mit mir zu treffen.
Falls eine von ihnen irgend etwas wissen sollte, wird es ihr wohl schwerer
fallen, vor den anderen zu lügen.
Als ich die Stufen am Eingang hochgehe,
gelobe ich mir, bloß Kaffee zu bestellen. In dem Lokal sitzt nur ein einziger
Gast, ein magerer Mann mit einem Wust von weißen Haaren auf dem Kopf, der ihm
das Aussehen einer ungepflegten Perserkatze gibt. Ich frage mich ganz nebenbei,
weshalb er ausgerechnet im Eingangsbereich sitzt, wo doch oben am Fenster alles
frei ist.
Ich gehe die drei Stufen hoch und wähle
einen Vierertisch aus. Noch bevor ich mich richtig hingesetzt habe, kommen die
Frauen herein. Es ist offensichtlich, daß sie sich vorher getroffen haben, um
gemeinsam kommen zu können. Sie entdecken mich auf Anhieb. Wir bestellen alle
Cappuccino.
So als Trio sehen sie aus wie die drei
Schicksalsschwestern. Privat würde man sie niemals zusammen an treffen.
Mary Jane, Ende fünfzig, ist die
älteste. Sie hat einen grauen Haarschopf, eine metallene Brille sitzt auf ihrer
großen Nase, und sie trägt ein kariertes Cape über Hemd und Hose.
Lorry Stone ist die jüngste, noch nicht
dreißig. Sie hat große blaue Augen, braunes
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