Immer verlasse ich dich
Pfund schwere
Frau auf ihm steht.
»Ihnen gehen gut?«
»Ja.«
Jetzt betastet sie seinen Oberkörper,
so wie ein anderer Arzt seine Hände gebrauchen würde. Und »es scheint Tom nicht
das geringste auszumachen. Wir schauen einander erstaunt an. Als sie seinen
Körper fertig untersucht hat, steigt sie wieder hinunter, zieht ihre Schuhe an
und setzt sich neben ihn. Mit den Händen tastet sie nun jeden Zentimeter seines
Gesichts und seines Kopfes ab. Ihre Augen sind geschlossen. Danach sieht sie
sich seinen Mund an, seine Zunge und in seine Augen. Sie benutzt keine
Instrumente.
»Ziehen Sie Hemd an«, sagt sie.
Während er das tut, wendet sie sich an
uns, spricht jedoch nur zu Sam.
»Kein Eis mehr. Er viel Eis essen,
richtig?«
»Ja, stimmt«, sagt Sam überrascht.
»Keine Molkereiprodukte mehr. Und
keinen Zucker.«
Tom stöhnt.
Sie fährt zu ihm herum, droht mit dem
Zeigefinger. »Sie wollen, daß es Ihnen besser geht, Sie hören auf mich. Ich
weiß, Sie mögen diese Sachen, aber nicht gut für Sie. Ich gebe Ihnen Diätplan.
Außerdem Kräuter. Sie trinken Kräuter viermal am Tag, so wie Tee. Sie werden es
nicht mögen. Geschmack ist bitter, aber gut für Sie.«
Tom nickt.
Sie wendet sich wieder an uns. Zu Kip
sagt sie: »Sie seine Schwester?«
»Ja.« Sie ist erfreut, daß Dr. Woo sie
erkannt hat.
»Sie große Schwester, Sie helfen auch.«
»Das werde ich.«
»Sie Schwägerin?« fragt sie mich.
»Ja.«
»Gut. Alle helfen.«
»Wir leben in San Francisco«, sagt Sam.
»Dann ziehen Sie mit Familie hierher.«
»Tja, ich...«
»Am besten so. Sie ziehen um.« Und das
ist ein Befehl. Zu Tom sagt sie: »Sie kommen nächste Woche wieder her?«
»Ich muß nach San Francisco zurück.«
Dr. Woo überlegt. »Ich gebe Ihnen Namen
von Mitarbeiter, und ich verschreibe Kräuter. Er wird sie Ihnen geben, bis Sie
hierher umziehen.«
»Vielen Dank.«
Im Vorzimmer spricht die Ärztin in
chinesisch zu ihrer Assistentin. An uns gewandt: »Ich sage welche Kräuter. Ich
gebe auch Diätplan.« Sie geht wieder in ihr Büro.
Die Assistentin vollführt ihren Tanz
zwischen Schrank und Tisch, wiegt ab und mixt. Als sie fertig ist, kommt Dr.
Woo mit dem Rezept zurück, das sie Tom reicht. Sie schüttelt ihm die Hand. »Wer
zahlen?«
»Wir«, sagen Tom und Sam gleichzeitig.
Sie reicht Tom noch einen Zettel, er
gibt ihn an Sam weiter, der einen Scheck ausstellt.
»Nette Familie«, sagt sie.
Wir stimmen ihr zu.
Draußen sagt Tom: »Kann ich ein letztes
normales Essen haben, bevor ich mich den Schrecken der Makroneurose unterziehen
muß?«
»Warum nicht?« sagt Sam.
»Italienisch, Indisch, Griechisch,
Französisch, Chinesisch...«
»Nicht Chinesisch.«
Wir lachen.
»Indisch.«
»Da kenne ich genau das richtige
Lokal«, sagt Kip und winkt einem Taxi.
In meinem Büro trinke ich aus meinem
Styroporbecher und esse ein Schokoplätzchen (beim Mittagessen habe ich auf die
Nachspeise verzichtet, weil indische Desserts mich nicht interessieren),
während ich durch das Fenster das Treiben auf dem Sheridan Square beobachte.
Von meinem Standort auf dem Waverly Place aus kann ich ein ganzes Stück weit
sehen. Ich habe Ausblick auf den Platz, außerdem auf die Seventh Avenue South
und die Straßen, die rechtwinklig dazu verlaufen.
Alles geht seinen gewohnten Gang: Autos
hupen, mehrere Männer jagen auf Rollerblades die Avenue hinunter, Leute kaufen
sich Zeitungen am Kiosk, hasten die U-Bahn-Treppe hinunter, halten Taxen an.
Nichts Neues. Ein stinknormaler Nachmittag in Greenwich Village.
Aber Meg hat mich verlassen.
Sie hat mich verlassen, und ich muß nun
allein mit dem Leben zurechtkommen, von dem Mord will ich gar nicht erst reden.
Sie hat mich verlassen, und ich muß den Täter finden und erfahre dabei Dinge
über sie, die ich nicht wissen will.
Doch wann genau hat sie mich
verlassen? War es in dem Augenblick, als sie getötet wurde, oder war es schon
viel früher, als sie sich in Dinge verwickeln ließ, die sie mir nicht erzählen
konnte oder wollte? Oder hat sie mich im Laufe der Jahre immer wieder
verlassen? Verläßt jeder immerzu jeden?
Rick hat William verlassen, wenn auch
nur vorübergehend.
Wenn kein Wunder geschieht, wird Tom
Sam verlassen.
Und William hat, mich auf seine Art,
verlassen.
Hat Kip mich verlassen? Wird sie es
tun?
Ich schaue auf meine Uhr und stelle
fest, daß sie gerade zwischen zwei Terminen Pause hat. Am Schreibtisch tippe
ich ihre Nummer ein, lasse es einmal klingeln, dann tippe ich
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